von Siegfried Tatschl
Wenn mich vor einigen Jahren jemand gefragt hätte: Wie schmeckt Kirchberg? Hätte ich ihm gesagt: Was heißt schmecken, man kann‘s ja nicht essen.
Doch heute ist das anders. Mittlerweile schmeckt Kirchberg im Juni nach Nankingkirschen, im Juli eher nach Marille/Aprikose und im Spätherbst nach Asperl/Mispeln. Begonnen hat alles 2003, als ich im Kindergarten, in dem mein Sohn war, eingeladen wurde, eine Grünfläche als Obstgarten zu gestalten. Im Laufe der Jahre wurden bei gemeinsamen Pflanzaktionen und Pflegetagen mit den Kindern, Eltern und Kindergärtnerinnen die bisherigen Ziersträucher im Kindergarten gegen Beerensträucher oder Obstbäume ausgetauscht. Auch das angrenzende Schulgelände wurde schrittweise in einen Obstgarten, der den Schülern aber auch der Öffentlichkeit zur Verfügung steht, umgewandelt.
„Essbare Städte fördern die Zugehörigkeit und sie fördern die Achtsamkeit für »meine« Gasse, »meine« Stadt, »meinen« Spielplatz.“ Siegfried Tatschl
Wesentlich: Schlüsselstellen und Hotspot
Kindergärten und Schulen sind für mich DIE Schlüsseleinrichtungen bei der Verbreitung der Idee der Essbaren Stadt oder Gemeinde und beim Kennenlernen neuer Obstsorten. Die Offenheit der Kinder beim spielerischen Verkosten und Entdecken neuer Aromen fasziniert mich immer wieder. Über die Kinder sind auch viele Eltern ansprechbar.
2007 wurde ich eingeladen, auf einer weiteren öffentlichen Fläche, die bis dahin brach lag, eine Hecke zu pflanzen. Das 1,3 Hektar große Grundstück bot die einmalige Gelegenheit, eine Vision die ich schon seit Jahren verfolgt hatte, umzusetzen: Möglichst alle Obst- und Nussarten, die in diesem Klima gedeihen können an einem Ort auszupflanzen. Der als »Essbare Landschaft« konzipierte Alchemistenpark ist benannt nach der Fundstelle eines Alchemistenlabors aus dem 16. Jahrhundert in unmittelbarer Nähe. Heute enthält er eine Sammlung alter und seltener Obstbäume und -sträucher und stellt den Hotspot in der Essbaren Gemeinde dar. (Hotspots sind Regionen der ökologischen Vielfalt auf unserem Planeten.) Von dieser Fläche aus können Anregungen zur Gestaltung des weiteren Umfelds entstehen. Auf ihr kann experimentiert werden und sie ist ein Treffpunkt, bei dem die soziale Dimension der Permakultur sowie die Präsentation der ökologischen Vielfalt erlebt werden können.
„Wir sind evolutionär geprägt darauf, uns an Orte zu erinnern, wo wir Nahrung finden. Die Farbe der Früchte weckt ganz tief angeborene Assoziationen, die unsere Sinne direkt ansprechen.“ Siegfried Tatschl
Kirchberg am Wagram: Die erste Essbare Gemeinde in Niederösterreich
Die Idee des »alles essbar« hat sich auf diesem fruchtbaren Boden weiterentwickelt: Vom »Essbaren Schulhof« bis zur »Essbaren Gemeinde« und der »Edible Park and Ride Facility«.
Essbare Park-and-Ride-Anlage Pflücken Sie selbst und genießen Sie das hier angepflanzte frische Obst auf Ihrem Weg. Wir wünsche Ihnen eine gute Fahrt! |
Die Marktgemeinde Kirchberg am Wagram kann als Pionier der Idee der »Essbaren Gemeinde« bezeichnet werden. Dabei geht es nicht darum, einen einzelnen Platz als »essbar« zu definieren, sondern dies als Gestaltungsprinzip durchzuziehen. Mit der Verwendung von Obst- und Nusspflanzen ist ein nachhaltiger Effekt verbunden: Es sind langfristige Investitionen zu tätigen, Bäume brauchen teilweise Jahre bis sie zu tragen beginnen und sie überdauern Generationen. „Die Bäume von morgen müssen wir heute pflanzen“, ist mein Motto. 2015 wurde dieses Konzept mit dem 3. Preis beim European Ecological Garden Award ausgezeichnet.
Sortenarchiv im öffentlichen Raum
Die Gemeinde nützt die öffentlichen Grünräume für die Erhaltung und die Vermittlung von Obst- und Nussvielfalt. Das Sortenarchiv umfasst mittlerweile über 200 Arten. Kirchberg am Wagram ist hier ein Vorbild für andere Gemeinden und zugleich ein überregionaler Treffpunkt geworden. Bürgermeisterinnen, Gemeinderäte und engagierte Bürgerinnen aus verschiedenen Gemeinden und Städte übernehmen diese Anregung und entwickeln ihre eigenen Projekte.
Dabei ist das Konzept der Essbaren Stadt kein Selbstläufer. Es gibt einiges worauf es ankommt:
1) Pioniere und PolitikerInnen
Neben den Menschen die ein Projekt starten und dafür „brennen“ braucht es jemanden auf der politischen kommunalen Ebene der das Projekt politisch verantwortet und öffentlich dafür eintritt. Ansonsten sind die Projekte nur vom ehrenamtlichen Engagement abhängig. Die Absicherung durch die Kommune garantiert erst die langfristige Entwicklung.
Eine essbare Stadt hat neben der unmittelbaren Fruchternte zahlreiche indirekte Zusatznutzen, die es zu berücksichtigen gilt und die im Sinne der Kommunalverwaltung liegen müssten.
So könnten essbare Landschaften in Städten als Gemeinwesenprojekt gestaltet werden. Dies bedeutet die Einbeziehung der Bewohner in die Planung, Umsetzung und Pflege der Essbaren Landschaften. Dies kann den Austausch zwischen alten und neuen Bewohnerinnen sowie die soziale Verantwortung für ein Viertel oder einen Stadtteil fördern.
Die mit den essbaren Landschaften verbundenen Tätigkeiten müssen nicht unbedingt ein Nachteil sein. Kommunale Arbeitsplätze sind insbesondere in Zeiten der Krise wichtig. Sie ermöglichen eine gezielte Versorgung von benachteiligten und arbeitslosen Jugendlichen, Menschen mit Behinderungen oder sonstigen Benachteiligungen. Dabei geht es um qualifizierte Arbeitsplätze, die hier geschaffen werden können.
2) Fruit-Streetworker garantieren die Pflege
Ein gewichtiges Argument gegen den Anbau von obsttragenden Bäumen in Städten ist die Frage des Nutzungsrechts und der Pflege, der Verschmutzung von Flächen und Autos durch abfallende Früchte, die Angst vor Wespen auf den Früchten sowie die Sorge wegen Vandalismus. All dies muss ernst genommen werden und braucht praktische Lösungen.
Ich habe deshalb das Konzept der »Fruit Streetworker/ Frucht Streetworker« entwickelt. Diese sind Spezialisten, die Wissen über Pflanzen, deren Pflege und auch über die kulinarische Verarbeitung haben. Kommunikative Kompetenzen müssen in diese Ausbildung integriert werden, da die Gärtnerinnen für Essbare Landschaften eine Marketingfunktion im kommunalen Bereich haben. Sie sollen sowohl interessierte Passantinnen informieren als auch die Nutzer der Essbaren Landschaften beraten. All dies sind wünschenswerte Kompetenzen, die beim Wechsel in andere Arbeitsbereiche oder auch in der Bewältigung von Alltagssituationen gebraucht werden. Zu guter Letzt räumen sie auch das Fallobst weg.
3) Identität und Verbundenheit
Viele ländliche Gemeinden klagen darüber, dass sie nur mehr Wohn- und Schlafsiedlungen sind und der soziale Zusammenhalt leidet. Die attraktive, lebendige und sinnliche Gestaltung des öffentlichen Raums erzeugt Identität undVerbundenheit. Die Nutzung und Verwertung von Obst im öffentlichen Raum fördert soziale Kooperation. Sie erfordert Absprache unter den Anrainern und ermöglicht auf weitere Sicht kleine Initiativen wie gemeinsames Apfelsaftpressen et cetera.
"So wie Schulen selbstverständlicher Teil einer Gemeinde oder Stadt sind, so sind in meiner Vision Obstgärten für Alle ein fixer Bestandteil einer zukunftsorientierten Gemeinde oder Stadt." Siegfried Tatschl
Der entscheidende Gewinn der »Essbaren Stadt/Gemeinde« besteht in der Anregung des sozialen Lebens.
Meine Perspektiven für die Zukunft der Essbaren Stadt – der Essbaren Gemeinde
Essbare Städte sind komplexe Gemeinwesenprojekte mit Multifunktionalität. In dem hier vorgestellten Konzept sind Obstpflanzen in allen Wuchsformen und –größen die tragenden Elemente in den Grünräumen. Durch den Einsatz unterschiedlichster Obstgehölze lassen sich Essbare Städte und Gemeinden in den verschiedensten Klimabereichen realisieren. Letztlich kann so ein großer überregionaler botanischer Garten entstehen.
Die Kommunikation zwischen Politik, Verwaltung und BürgerInnen bezüglich der Planung, Umsetzung und Pflege der Obstgehölze benötigt SpezialistInnen. Wünschenswert wären gemeinsame Weiterbildungslehrgänge für BaumpflegerInnen, SozialarbeiterInnen und LandschaftsplanerInnen mit dem Schwerpunkt auf die Gestaltung mit Obstgehölzen und deren Pflege, auf soziale Kommunikation und ökologische Grünraumpflege.
Die Vernetzung der verschiedenen Essbaren Städte und Gemeinden in Österreich, der Schweiz und Deutschland auf einer gemeinsamen Plattform könnte das umfangreiche Sortenregister öffentlich zugänglich machen. Die Verfügbarkeit der Sorten zur Vermehrung in Baumschulen könnte so gesichert werden.
Letzter Abschnitt zitiert aus:
Siegfried Tatschl, Die Essbare Stadt – Verkosten erwünscht! Edible City – pick your fruit!
erschienen im Jahrbuch der Baumpflege 2023, Seiten 202-216, Hrsg. Dirk Dujesiefken, Thomas Amtage, Markus Streckenbach, Haymarket Media, Braunschweig 2023, ISBN 978-3-87815-283-5.
Am 9. November 2024 kann man gemeinsam mit Sigi Tatschl die erste Essbare Gemeinde der Schweiz in Oberdorf im Kanton Nidwalden pflanzen.
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