Nachhaltige Mobilität: Schneller langsamer bewegen

Über fußgängerfreundliche Verkehrsplanung, eine Fahrradstadt und einen bewusst autofreien Wohnblock.


Wie viel Fläche benötigen unterschiedliche Verkehrsmittel, wenn 72 Personen in die Innenstadt wollen? Ergebnis: 60 Autos brauchen 1000 m2, Fahrräder 90 m2 und der Bus 30 m2. Foto: Presseamt Stadt Münster

von Maria König

Gerade in Zeiten sich auftürmender Klima- und Umweltprobleme ist es verlockend, zu hoffen, dass »grüne« Technik helfen kann, ein bequemes Zivilisationsniveau zu halten oder für weniger privilegierte Länder als noch immer erreichbar in Aussicht zu stellen. Dass viele gegenwärtige technologische Innovationen auf menschliches Erleben und Handeln zurückwirken, sodass gerade keine Effizienz entsteht und Lebensqualität schwindet, lässt sich eindrucksvoll an der Mobilitätsentwicklung der letzten 150 Jahre zeigen.

Mit der industriellen Revolution explodierte das Verkehrsaufkommen und die Beschleunigung des Lebens. Die Eisenbahn und der elektrifizierte Personennahverkehr lösten Pferdedroschken ab und etablierten eine zuvor unvorstellbare Reisegeschwindigkeit. Hans Christian Andersen lässt dieses Erleben in seinem autobiografischen Reisebericht »Eines Dichters Bazar« aus dem Jahr 1843 lebendig werden: »Oh, welches große Werk des Geistes ist doch die Erfindung [der Eisenbahn]! Man fühlt sich ja mächtig wie ein
Zauberer der Vorzeit! Wir spannen unser magisches Pferd vor den Wagen, und der Raum verschwindet; wir fliegen wie die Wolken im Sturm, wie der Zugvogel fliegt; unser wildes Pferd wiehert und schnaubt, der Dampf entsteigt seinen Nüstern. Schneller konnte Mephistopheles nicht mit Faust auf seinem Käppchen fliegen! Wir sind durch natürliche Mittel in unserer Zeit ebenso stark, als man im Mittelalter nur durch die Hilfe des Teufels sein konnte! Wir sind ihm durch unseren Verstand an die Seite gekommen, und ehe er es selber weiß, sind wir an ihm vorbei.«

Seit 1913 erfasste dieser Geschwindigkeitsrausch mit dem Aufkommen des Autos auch den Individualverkehr; in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gipfelte er darin, dass Flugzeuge die Schiffe im Personenfernverkehr ablösten. Der flüssige Autoverkehr ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zentraler Fokus von Verkehrsplanungskonzepten, wobei sich die Anzahl gemeldeter Pkws in Deutschland mit heute 48 Millionen im Vergleich zu 1980 verdoppelt und im Vergleich zu 1960 sogar verzehnfacht hat – Tendenz noch immer steigend.

Als sich 1985 der Fuss e. V. zur Vertretung der Interessen von Fußgängern gründete, wurde er zunächst von Verkehrsplanern belächelt. »Ironisch wurden wir gefragt, wie viele Millionen Kilometer denn der Fußverkehr schaffen würde«, erzählt Stefan Lieb, Bundesgeschäftsführer des Vereins. »Der Leistungsgedanke steht bis heute bei der Verkehrsplanung im Vordergrund.« Dabei waren Straßen über 5000 Jahre lang ein von Fußgängern und den verschiedenen Verkehrsmitteln gemeinsam genutzter Raum, bis erstere im Sinn einer autogerechten Stadt an die Straßenränder verwiesen wurden. Der Fuss e. V. setzt sich für verschiedene Projekte ein, wie »Gut gehen lassen – Bündnis für attraktiven Fußverkehr«, bei dem sie fünf deutsche Städte bei dem Vorhaben unterstützen, eine Fußverkehrsstrategie zu entwickeln. Ein weiteres Beispiel ist »Gehen bewegt das Dorf« zur Revitalisierung kleiner Ortschaften, um der einseitigen Nutzung von Straßen allein für den motorisierten Verkehr entgegenzuwirken.

Schneller, weiter, effizienter?

Zweifellos kann man mit modernen Fortbewegungsmitteln in kürzerer Zeit weitere Wege zurücklegen. Berechnungen Roger Fouquets vom Grantham Research Institute on Climate Change zufolge waren die weit entwickelten Pferdekutschen Mitte des 19. Jahrhunderts, gemessen an zurückgelegten Personenkilometern (pkm) pro Tonne Öl-Äquivalent (toe), jedoch die energieeffizientesten Reisevehikel der Welt. Verglichen wird dabei der Energieverbrauch für die Herstellung von Heu und Hafer für Pferde mit dem von Kohle, Öl und Strom für Bahn und Autos. Höchstwerte lagen im Jahr 1830 für Pferdekutschen bei 32 000 pkm/toe, 1960 für Pkw bei 17 000 pkm/toe. Somit kann bereits der bloße Energieverbrauch der Antriebstechniken von Eisenbahn und Auto bis heute nicht an die Energieeffizienz der Pferdedroschke heranreichen.

Ebenfalls über eine gute Energiebilanz verfügt das Fahrrad. Dessen Vorteile noch stärker ins Bewusstsein zu heben, ist seit vielen Jahren ein Anliegen des Verkehrsplanungsamts der Fahrradstadt Münster. Der Verkehrsplaner Stephan Böhme erzählt von einer in Münster initiierten Aktion im Jahr 1990, als sich nacheinander 72 Menschen zuerst mit dem Auto, dann mit dem Bus und zuletzt mit Fahrrädern auf dem Prinzipalmarkt versammelten. Dies demonstrierte eindrucksvoll den Platzverbrauch der jeweiligen Verkehrsmittel. Bis heute wird die Dokumentation dieses Experiments gerne in Lehrbüchern abgedruckt. Ein weiteres zeigte, dass man mit dem Energie-Inhalt eines Glases Milch mit dem Fahrrad den Marktplatz überqueren, mit einem Auto oder Bus aber nur wenige Meter weit fahren kann.

Münster hatte das Glück, dass dort seit 1950 großzügig Fahrradwege angelegt wurden, für deren Erhalt viel getan wird.  Überdurchschnittlich viele Menschen nutzen hier das Fahrrad auch für längere Strecken. Ein aktuelles Projekt der Stadt ist der Ausbau der Stadt-Umland-Verbindung für das Radfahren, damit in Zukunft noch mehr weite Radstrecken zurückgelegt werden. »Mit dem Rad bin ich flexibler und habe einen intensiveren Eindruck von der Stadt. Außerdem komme ich viel schneller und besser in Kontakt mit den Menschen, wenn sie nicht eingeschlossen in einer Kiste sitzen.« Damit spricht Stephan Böhme die erhöhte Lebensqualität durch Radfahren an, die durch Studien belegt ist. Demnach leiden die Münsteraner seltener an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und weisen weniger Krankheitstage auf als der Bevölkerungsdurchschnitt. 2004 wurde Münster zur lebenswertesten Stadt der Welt in der Kategorie über 200.000 Einwohner gewählt.

Zur Lebensqualität gehört auch das Gefühl, Zeit zu haben. Dass die Menschen in einer sich immer weiter beschleunigenden Welt unter Zeitmangel leiden, bezeichnet Tilman Santarius als einen »strukturellen Rebound-Effekt«. Der Autor zitiert in seinem Buch »Der Rebound-Effekt« Roger Fouquet, der den Zusammenhang von technischer Innovation und sozialer Beschleunigung betont: »Immer, wenn sich das Transportwesen revolutioniert hat, günstiger und schneller wurde, hat sich auch die Art des Lebens und Arbeitens transformiert.« Ohne das moderne Verkehrswesen wären die rasenden Warenströme der globalisierten Produktionsketten undenkbar.

Entschleunigung leben!

»Wir haben erlebt, wie der weite Atlantik mit einem Mal durch die Dampfkraft zur Hälfte seiner ursprünglichen Breite zusammengeschrumpft ist […] Das Mittelmeer, das wir jetzt binnen einer Woche erreichen können, ist vor unseren Augen auf die Größe eines Sees zusammengeschrumpft. […] Der Rhein, die Donau, die Themse, der Medway, der Ganges und so weiter haben sich in ihrer Länge und Breite mehr als halbiert, und die großen Binnenseen der Welt trocknen mit zunehmender Geschwindigkeit zu Tümpeln aus.«

So heißt es in einem Artikel der Londoner »Quarterly Review« aus dem Jahr 1839. Mit diesem und weiteren Zitaten illustriert Wolfgang Schivelbusch in seiner »Geschichte der Eisenbahnreise« eindrucksvoll, wie einschneidend die neuen Geschwindigkeitsdimensionen die Raumwahrnehmung der Menschen verändert haben. Die Beschleunigung des Verkehrs sei Teil eines sich selbst antreibenden Prozesses, indem sich Reisezeiten von Wochen auf Tage, von Tagen auf Stunden reduzieren und beispielsweise Geschäftstermine in unterschiedlichen Städten am gleichen Tag oder Kurzurlaube mit Billigfliegern ermöglichen. Diese soziale Beschleunigung aufgrund einer höheren Zahl realisierbarer Handlungen in kurzer Zeit erzeugt eine Steigerung des Lebenstempos – und paradoxerweise das Gefühl von Zeitknappheit.

Ein eindrucksvolles Projekt, das zu einem Aussteigen aus diesem »Hamsterrad der Wegezeiten« einlädt, ist die seit 2000 existierende Mustersiedlung Floridsdorf in Wien. Wer in eine der 250 Wohneinheiten zieht, unterschreibt die Zusage, auf ein eigenes Auto zu verzichten. Statt in Tiefgaragen investierte der Initiator Christoph Chorherr konsequent in den Ausbau von Gemeinschaftsflächen und -räumen. Carmen Ziegler erzählt: »Obwohl die Wohnungen sehr klein sind, leben hier viele Familien. Die grünen Flächen und die gemeinsamen Räume gleichen das wieder aus. Man begegnet sich, ist sofort eingebunden. Es hat fast eine Dorfatmosphäre.«
In Floridsdorf, Münster und auch im Fuss e. V. engagieren sich vor allem ökologisch bewusste, akademisch gebildete Menschen für eine nachhaltige Mobilität.


Bereits erschienen in Oya #Ausgabe 37 - Die große Illusion.

Nach oben