Das Lebensende ist gestaltbar

Die deutsche Sterbekultur im Intensivmedizinischen Bereich aus permakultureller Sicht


von Clemens Huschak

Seit fünfzehn Jahren arbeite ich als Krankenpfleger auf verschiedenen Intensivstationen in den Bereichen Innere Medizin, Neurochirurgie, Neurologische Frührehabilitation, Entwöhnung von der künstlichen Beatmung und Verbrennungsmedizin. Mit dem Besuch des Permakultur Basisjahres begann ich meine Erlebnisse mit Intensivmedizin aus einer neuen Sicht zu betrachten. Ethische Prinzipien stellen die Sorge für den Menschen und die Erde in den Mittelpunkt. Als Gestaltende können wir unseren Umgang mit Menschen und Ressourcen analysieren und verändern. Auch das Sterben ist ein Prozess, der individuell gestaltet werden kann und sollte. In der gezielten Auseinandersetzung unter anderem mit Patienten, Angehörigen und Kollegen ist folgender Text entstanden. Ziel dieser Schrift ist es, Menschen an meinen Erfahrungen am Scheideweg zwischen Leben und Tod teilhaben zu lassen. Nicht zuletzt will ich zur Diskussion anregen.

Beobachtungen

Ich erlebe in meinem Umfeld, dass der Tod und das Sterben für viele Menschen vorrangig eine Bedrohung darstellt und nichts Schönes oder Heiliges in sich trägt. Der natürliche Weg des Lebens vom Geborenwerden bis zum Sterben wird von vielen nicht als Teil eines großen Kreislaufs wahrgenommen. Hinzu kommt die deutsche Gesundheitsversorgung. Sie wurde durch die Umstellung der Abrechnung auf Fallpauschalen im Jahre 2004 dem Profit- und Wachstumsgedanken unterworfen. Mit dem Ergebnis, dass weniger der Patient im Mittelpunkt des Denkens und Handelns steht, sondern wirtschaftliche Interessen.

Die Frage, die ich mir mit den Erfahrungen meines Berufes stelle, ist: Warum müssen so viele Menschen gerade im hohen Lebensalter unnötig auf Intensivstationen leiden?

Eine Patientengeschichte

Den heutigen Geist der Medizin möchte ich anhand einer Geschichte verdeutlichen. Es ist die Geschichte von Erna Müller. Als sie mit 81 Jahren vom Notarzt ins Krankenhaus gebracht wurde, ging es ihr gar nicht gut. Ihre Atemnot wurde in den letzten Tagen immer stärker, sie schaffte es kaum noch aus dem Bett. Frau Müller hatte das Gefühl, dass es zu Ende geht, doch sie war zufrieden damit. Sie war stolz darauf, was sie und ihr Mann, der leider schon verstorben war, erreicht hatten. Sie blickte zurück und dachte bei sich: »Ja, vielleicht ist es Zeit zu gehen, und dann kann ich endlich wieder bei meinem Wilhelm sein.«

Als der Rettungswagen in der Notaufnahme eintraf, war es dort kalt und hektisch. Während der Fahrt wurde der Harndrang so stark, dass sie das Wasser nicht mehr halten konnte. So lag sie nun, bis ein Blasenkatheter gelegt wurde, im Nassen. Die Untersuchung ergab, dass das Herz noch schwächer geworden war und die Herzklappe, über die das Blut in den Körper gepumpt wird, nicht mehr richtig schloss. Außerdem arbeiteten die Nieren nicht mehr vollständig.

Durch die Medikamente und den Sauerstoff, die sie vom Notarzt bekommen hatte, ging es ihr schon etwas besser. Erna Müller wurde auf der Intensivstation an eine Überwachungsanlage angeschlossen. Die Krankenschwester fragte, ob sie im Moment etwas bräuchte und wie stark Schmerzen und Atemnot seien. Erna Müller antwortete: »Ich möchte eigentlich nur nach Hause, ich habe mein Leben doch gelebt. Ich glaube, es geht zu Ende«.

Dr. Bach betrat das Zimmer, er hatte einen OP-Aufklärungsbogen in der Hand. »Frau Müller«, begann er, »nach den mir vorliegenden Unterlagen sehe ich keine andere Möglichkeit, als Ihnen eine neue Herzklappe einzusetzen.« Erna überlegte kurz und erwiderte: »Herr Doktor, ich weiß nicht, ob ich mich einer solchen Behandlung unterziehen möchte. Was ist, wenn etwas schiefgeht?« »Frau Müller, der Eingriff ist für uns keine große Sache, wir machen das jeden Tag. Haben sie keine Angst, da wird schon nichts schiefgehen.« »Nein, Herr Doktor, ich möchte nach Hause, auch wenn es bedeutet, dass ich sterbe.« »Frau Müller, das geht nicht. Denken Sie an Ihre Kinder und Enkel und was für einen Belastung das für sie wäre. Frau Müller, ich habe jetzt auch nicht mehr viel Zeit, andere Patienten warten. Ich brauche hier jetzt ihre Unterschrift.« Erna Müller überlegte. Vielleicht hatte der Doktor recht, schließlich ist er ja Arzt und hat die Aufgabe, mir zu helfen.

Außerdem: Zur Last fallen wollte sie wirklich nicht – niemandem. Schließlich unterschrieb sie, nachdem sie sich kurz mit ihren ebenfalls kritischen Töchtern abgesprochen hatte. Es folgte noch die Aufklärung des Narkosearztes. In diesem Moment wurden Atemnot und Schmerzen so stark, dass sie kaum folgen konnte. Er erzählte irgendwas von Risiken wie Blutverlust, Beatmungskomplikationen und Dialyse. Erna Müller verstand nur die Hälfte.

Als Erna Müller nach dem Eingriff erwachte, wusste sie nicht mehr, wer sie war und was passiert war. Irgend etwas steckte in ihrem Hals und ihrer Nase. Außerdem konnte sie nur ihren rechten Arm bewegen. Sie wollte das Ding aus ihrem Hals entfernen, doch der Arm war festgebunden. Sie musste husten, doch sie konnte nicht. »Nicht erschrecken, ich sauge sie jetzt ab.«, hörte sie eine Stimme und spürte einen stechenden Schmerz in der Lunge. Sie konnte daraufhin nicht mehr aufhören zu husten. Die Stimme sagte: »Sie sind immer noch im Krankenhaus. Ich lasse Sie jetzt wieder schlafen.«

Während der Operation hatte sich ein Blutgerinnsel gelöst und ein Gefäß des Gehirns verschlossen. Die Folge war eine halbseitige Lähmung. Außerdem war das Schluckzentrum betroffen, sodass Frau Müller nach der Operation der Beatmungsschlauch nicht entfernt werden konnte. Infolge der Operation verschlechterte sich auch Frau Müllers Nierenfunktion, bis sie nach einigen Tagen gänzlich versagte und Frau Müller an ein Dialysegerät angeschlossen werden musste. Durch die Beatmung entwickelte sich schnell eine Lungenentzündung, die mit Antibiotika behandelt wurde.

Trotzdem entwickelte sich eine Sepsis, eine den ganzen Körper betreffende Entzündung, ausgelöst durch einen antibiotikaresistenten Keim. Erna Müller verbrachte die folgenden Wochen auf der Intensivstation. Im Verlauf der Therapie wurde es notwendig, ihr einen Luftröhrenschnitt zu setzen. Durch die Bettlägerigkeit hatte sich am Steiß ein schmerzhaftes Druckgeschwür gebildet, welches immer größer wurde. Erna Müller wurde nie mehr richtig wach.

Ihre Töchter besuchten sie täglich und mussten mit ansehen, wie ihre Mutter litt. Schnell wurde Ihnen klar, dass sie das so niemals gewollt hätte. In der Familie entstand die Überzeugung, dass dies so nicht in ihrem Interesse war. Die Töchter flehten die Ärzte an, sie friedlich einschlafen zu lassen. Diese sahen jedoch eine realistische Chance, dass Erna Müller wieder gesund werden würde, außerdem hatte sie ja in die Operation eingewilligt. Daraus leiteten die behandelnden Ärzte ab, dass es auch ihr Wille sei, weiter therapiert zu werden. Vierzig Tage nach der Operation kam es zum Herzstillstand. Erna Müller starb nach einer erfolglosen Reanimation auf der Intensivwstation.

Die Natur und der schmerzfreie Tod

Doch Sterben muss nicht so ablaufen. Die Natur ist auch in der Gestaltung des Todes an Genialität nicht zu übertreffen. In den meisten Fällen hat der menschliche Körper Mechanismen, ihm ein friedliches hinübergleiten in den Tod zu ermöglichen. Versagt zum Beispiel die Lunge, kann der Körper das im Stoffwechsel anfallende CO2 nicht mehr ausscheiden. Der Anstieg von CO2 führt zum Einschlafen (CO2-Narkose) und in der Folge zum Kreislaufstillstand.

Beim Versagen der Nieren ist der Körper nicht in der Lage, die Giftstoffe, die normalerweise über die Niere ausgeschieden werden, loszuwerden. Die Folge ist eine Vergiftung und ebenfalls Narkotisierung des Körpers ohne Schmerzen. Genauso normal ist es, dass alte Menschen im letzten Lebensabschnitt die Aufnahme von Flüssigkeit und Nahrung einstellen.

Alle diese Mechanismen führen zu einem schmerzfreien Tod, der durch die moderne Medizin nicht verhindert, aber lange herausgezögert werden kann. Intensivmedizinische Maßnahmen – insbesondere die Reanimation, beispielsweise durch Herzdruckmassage – und auch das Legen von Kathetern und anderen Körperzugängen sind gewaltsam und stellen eine Körperverletzung dar. Diese Körperverletzung ist laut Gesetz nur zulässig, wenn sie dem vermuteten Willen des Patienten entspricht. Befragt man Menschen über 75 Jahren, lehnen 91 Prozent intensivmedizinische Maßnahmen ab.

Die heutige hochtechnisierte Apparatemedizin bietet viele Möglichkeiten, schwerwiegende und komplexe Erkrankungen und Trauma zu behandeln. Gleichzeitig ermöglicht sie jedoch, einen schlechten gesundheitlichen Zustand über eine lange Zeit aufrechtzuerhalten.

Das Lebensende gestalten

Da der Tod so individuell wie das Leben ist, ist es schwer, allgemeingültige Regeln aufzustellen. Aus meiner Sicht ist es das Wichtigste, sich rechtzeitig selbst Gedanken zu machen, wie man sterben will. Meine Empfehlungen sind deshalb: Sprechen Sie mit Ihren Nächsten über den Tod und wie Sie in einer Notfallsituation und im Alter behandelt werden wollen! Sprechen Sie mit Ihren Angehörigen darüber, was Sie sich wünschen, wenn eine Notfallsituation eintreten sollte! Erklären Sie schriftlich, in Form einer Patientenverfügung, was sie in einer Notfallsituation für angemessen erachten! Bestimmen Sie in Form einer Vorsorgevollmacht, wer für Sie Entscheidungsberechtigt ist, wenn Sie nicht selbst entscheiden können! Hier ist es von Vorteil, möglichst Angehörige zu benennen, die einen medizinischen Hintergrund haben, falls es sie in der Familie gibt.

Wenn Ihnen größere operative Eingriffe oder intensivmedizinische Maßnahmen angeraten werden, nutzen Sie die Möglichkeit der ärztlichen Zweitmeinung! Sollten Sie oder einer Ihrer Angehörigen bereits an einer oder mehreren Krankheiten leiden und bei Ihnen oder Ihrem Angehörigen im Falle eines Notfalls Maßnahmen mit intensivmedizinischer Behandlung abgelehnt werden, stellen Sie sicher, dass dieser Wunsch deutlich und mehrfach für Außenstehende ersichtlich ist! Dies gilt insbesondere für Heimbewohner oder Patientinnen, die durch einen Pflegedienst versorgt werden.

Mit einem Jahresbudget von 400 Milliarden Euro steht dem deutschen Gesundheitssystem jährlich genug Geld zur Verfügung und es gibt genug Personal – wir machen nur zu viel Medizin. Was es braucht, ist mehr rechtzeitige und vor allem mehr menschliche Kommunikation, die die Wünsche des Patienten im Fokus hat. Es muss Standard werden, kranke und alte Menschen bei der Aufnahme im Krankenhaus über deren Wünsche im Notfall zu befragen und diese für alle ersichtlich und bindend zu dokumentieren. Die Entscheidung über die Fortführung oder das Einstellen einer Therapie ist zu schwerwiegend und zu komplex, als dass sie von wenigen getroffen werden kann. Diese Entscheidung kann nur in einem Team unter Einbeziehung von erfahrenen Ärzten, erfahrenen Pflegekräften, wenn möglich dem Patienten und dessen Angehörigen sinnvoll erfolgen. Es ist an der Zeit, die Grenzen der Medizin auch im Hinblick auf die in Zukunft vorhandenen Ressourcen zu definieren. Viel stärker finanziert und fokussiert werden sollte eine palliativmedizinische Versorgung gerade alter und schwerkranker Patientinnen.

Zum Schluss möchte ich Erna Müllers Geschichte so erzählen, wie sie in ihrem Interesse und im Interesse aller hätte sein können. Auch wenn es sich für manche befremdlich anhören mag, der Tod beziehungsweise das Sterben kann, wenn es bewusst und achtsam gestaltet wird, schön sein.

Ein schöner Tod

In der Notaufnahme wurde Erna Müller gründlich untersucht. Es stellte sich heraus, dass das Herz noch schwächer geworden war
und die Herzklappe, über die das Blut in den Körper gepumpt wird, nicht mehr richtig schloss. Außerdem arbeiteten die Nieren nicht mehr so, wie sie sollten. Durch die Medikamente und den Sauerstoff, den sie vom Notarzt bekommen hatte, ging es ihr schon etwas besser. Nach dem die Untersuchungen abgeschlossen waren, kam Dr. Bach in den Behandlungsraum und setzte sich zu ihr. An seinem Blick erkannte sie, dass es ernst war.

»Liebe Frau Müller«, begann der Doktor, »ich habe mich gerade nochmal mit unserem Herzchirurgen besprochen. Die bei Ihnen bekannte Insuffizienz ihrer Herzklappe hat zugenommen. Diese Situation ist lebensbedrohlich und kann in ihrem Fall nur durch eine aufwendige Operation gelöst werden. Die Chance, diese Operation ohne Schaden zu überleben, sind gegeben, doch haben Sie aufgrund ihres Alters mit erheblichen Komplikationen zu rechnen. Für uns ist jetzt von entscheidender Bedeutung herauszufinden, was sie sich wünschen.« Für Erna war die Sache klar: Ein langer Klinikaufenthalt mit der Gefahr, hinterher ein Pflegefall zu sein, war ihr ein Graus. Trotzdem wollte sie sich mit ihren Töchtern, die draußen warteten, beraten. Sie vereinbarte mit Dr. Bach Bedenkzeit.

Nach einer Stunde war sich Erna Müller sicher, dass sie keine aufwendige Herzoperation wünschte, sondern lieber zu Hause im Kreise der Familie ihre letzten Stunden oder Tage verbringen wollte. Dr. Bach kam erneut und besprach mit der Familie das weitere Vorgehen. Er erklärte, dass er sofort den Palliativnotdienst informieren würde, der die weitere häusliche Behandlung übernehmen sollte. Nach zwei Stunden war der Rücktransport nach Hause organisiert. Erna Müller starb zwei Tage später. Doch diese zwei Tage waren mit die schönsten und intensivsten ihres Lebens. Die Atemnot war da, konnte aber gut mit Sauerstoff und Morphin behandelt werden. Aus dem Bett kam sie nicht mehr, wurde aber sehr freundlich von einem Pflegedienst und dem Palliativ-Team versorgt. Und alle waren da, alle hatten Zeit sich zu verabschieden.

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