von Corinne Päper
Der Wolf kehrt in die Alpen zurück. Kaum taucht er jedoch auf, wird bereits sein Abschuss gefordert. »Wölfe zum Abschuss frei«, titelte die Neue Zürcher Zeitung kürzlich. »Der Wolf breitet sich aus«, warnen weitere Zeitungen. Darin schwingt die Angst mit, das Raubtier würde sich zunehmend an den Nutztieren auf der Alp vergreifen.
Betrachtet man aber die Fakten, dann ist der Wolf nur für einen geringen Teil der auf der Alp verendeten Schafe verantwortlich. Rund 80 Prozent der Tiere, die nicht mehr zurückkehren, sterben an anderen Ursachen. Etwa an Erkrankungen, die auch 70 Prozent aller Todesfälle ausmachen. Hinzu kommt die Nachlässigkeit der Halterinnen und Halter. Beispielsweise weil die Schafe sich in Weidezäunen verwickeln oder Nägel, Drahtstücke sowie von Wanderern liegengelassenes Plastik fressen. Aber auch, weil sie von Blitz- und Steinschlägen getroffen werden oder weil viel Schnee fällt. Einige der Schafe werden Ende des Sommers sogar auf der Alp zurückgelassen, »da es zu aufwendig wäre, sie ins Tal zurückzuholen oder weil sie sich in unwegsamem Gelände verstiegen haben«, wie zwei ungenannt bleibende »Insider aus Schäfer- und Jägerkreisen« gegenüber der Berner Zeitung zu Protokoll gaben. Namentlich äussern wollten sie sich nicht, weil sie Repressalien der Anti-Wolf-Lobby befürchteten.
Hinzu kommt, dass Schafherden auf der Alp oft sich selbst überlassen werden. Nur knapp die Hälfte der 800 Schafalpen in der Schweiz werden von Hirten mit Hunden geschützt. Bei den ungeschützten Herden ereignen sich aber auch die meisten Wolfsschäden. 2021 betraf das 700 von rund 800 Rissen. Gerade 100 Schafe wurden trotz Präsenz von Herdenschutzhunden getötet, wobei bei jedem Wolfsangriff nur wenige Schafe starben. Insgesamt ist das ein Bruchteil der insgesamt 4.200 Schafe, die während der Sommerzeit aus anderen Ursachen verenden.
Wolf im Naturkreislauf
Während sich der mediale Fokus vor allem auf Wolfsschäden richtet, wird seiner ökologischen Funktion kaum Beachtung geschenkt. Kurz gesagt: Er sorgt für Artenvielfalt, um die es in der Schweiz nicht zum allerbesten steht. Doch wie? Durch seine Präsenz sorgt er dafür, dass das Wild nicht allzu lange an einer Stelle verweilt und dort alles kahl frisst. Weil die Pflanzenfresser nicht alle Triebe abgrasen, wird die Vegetation geschont und die Schutzwälder verjüngen sich. Das wiederum verringert die Bodenerosion und vermindert Erdrutsche, Lawinen und Hochwasser. Das nützt nicht nur dem Menschen, sondern auch Lebensgemeinschaften von Insekten, Fischen, Vögeln oder Bibern. »Mehr Artenvielfalt führt zu beständigeren und stabilen Ökosystemen«, bestätigt Gabor von Bethlenfalvy von WWF Schweiz.
Ein Anschauungsbeispiel liefert die Wiederansiedlung von Wölfen im Yellowstone Park in den 1990er-Jahren in den USA. Auch dort wurden die Raubtiere 1926 ausgerottet. Infolgedessen schossen die Hirschbestände in die Höhe. Die schiere Zahl von zeitweise 20.000 Tieren bedrohte durch ihren übermässigen Frass viele Baumarten. So sehr, dass es vor der Wiederansiedlung der Wölfe von vielen nur noch einzelne Jungpflanzen gab, etwa von der Zitterpappel. Diese ist für das Ökosystem jedoch ausserordentlich wichtig, denn sie bietet zahlreichen Vögeln einen Lebensraum. Auch andere Tiere litten unter der schrumpfenden Baumvielfalt. So auch die Biber, die in den 1950-er Jahren aus dem Park verschwanden, weil es ihnen an Baumaterial fehlte. Mit den Bibern und ihren Staumauern verschwanden aber auch die aufgestauten Wasserflächen, was wiederum Pflanzen dezimierte, die dort an feuchten Standorten wuchsen und die Futtergrundlagen der Grizzlys bildeten.
Auch in der Schweiz wurde der Wolf im vergangenen Jahrhundert komplett ausgerottet. Seit 1995 wird er aber immer häufiger wahrgenommen. Gemäss Bundesamt für Umwelt gibt es derzeit (Stand Dezember 2022) rund 23 Wolfsrudel. Insgesamt wurden dieses Jahr 180 Wölfe gesichtet. 2010 waren es erst zehn. Dennoch könne er allein den Pflanzenfresserbestand nicht regulieren, sagt David Gerke, Präsident des Vereins »Gruppe Wolf Schweiz«. »Die Jagd ist notwendig, um den Bestand der Wildschweine und Rothirsche ausreichend zu regulieren. Nüchtern betrachtet sollte man aber anerkennen, dass der menschliche den tierischen Jäger quantitativ und qualitativ nicht ersetzt.«
Grosszügige Entschädigungen
Trotz der steigenden Zahl an Raubtieren nahm die Zahl der gerissenen Nutztiere pro Wolf ab. Waren es 2010 noch 15 Tiere wie Schafe oder Ziegen, sind es heute nur noch fünf pro Wolf. »Die Tiere werden also nicht dreister, sondern braver«, meint Gerke. Dieser Erfolg sei auf Herdenschutzmassnahmen wie Elektrozäune oder Herdenschutzhunde zurückzuführen. Auch wenn sie Verluste erleiden: Schäferinnen und Schäfer werden vom Bund dafür entschädigt.
Sie erhalten 7,1 Millionen Franken für die Sömmerung der 200 000 Schafe auf der Alp sowie weitere 3 Millionen Franken für den Herdenschutz. 2022 wurden zusätzlich Notmassnahmen von 5,7 Millionen Franken bewilligt. Vom Wolf gerissene Schafe werden mit 200 bis 2.000 Franken entschädigt. Oft liegt dieser Betrag laut Agrarstatistik sogar über dem reinen Fleischwert der Tiere, da die Tierhaltenden zum Marktwert entschädigt werden. Die Entschädigungszahlungen des Bunds belaufen sich pro Jahr zwischen 150.000 und 200.000 Franken. Das ist weniger als die Hälfte dessen, was allein der Kanton Aargau für Wildschweinschäden ausgibt.
Mensch und Raubtier auf dichtem Raum
Im dicht besiedelten Europa ist ein Zusammentreffen von Raubtieren und menschlicher Kultur kaum vermeidbar. Das ist für Gabor von Bethlenfalvy und David Gerke jedoch kein Problem: »In Europa leben wir mit zig anderen, konfliktträchtigen Wildtieren zusammen.« Beispielsweise mit Luchsen und Bibern. Aber eben auch mit dem Wolf, der sich gemäss Bethlenfalvy im Bündnerland ausgesprochen wohl fühlt. »Dort befinden sich fast zwei Drittel aller Wolfsrudel.« Generell liessen sich Konflikte zwischen Mensch und Raubtier aber nur verringern, wenn Halter ihre Schafherden flächendeckend schützen, meinen Gabor von Bethlenfalvy und David Gerke. Auch das menschliche Verhalten spielt dabei eine Rolle: »Wir müssen Wölfe als Wildtiere respektieren und dürfen sie nicht füttern oder anlocken«, fordert Gerke. »Sonst verlieren sie ihre Scheu und werden zum Problem für Menschen.«
Feindbilder durch Emotionen
Während für Gerke die Daseinsberechtigung der Jagd auf Rehe und Wildschweine in der Kulturlandschaft unbestritten ist, erstaunt ihn aber, »dass der Artenschutz wegen einzelner kantonaler Jagdverwaltungen ausgehöhlt wird, die es als Schaden erachten, wenn Wölfe Wildtiere erbeuten. Auch das öffentliche Interesse an einem gesunden Waldökosystem durch einheimische Beutegreifer wird missachtet.« Ähnlich befremdet ist von Bethlenfalvy: »In der Politik wird polemisiert. Vielen scheint es nicht um den Wolf zu gehen, sondern darum, was er für einzelne Bevölkerungsgruppen repräsentiert.« Etwa Feindbilder zwischen Stadt und Land, Rechts und Links, Berggebiet versus Mittelland. »Investierten wir genauso viel Energie in praktische Lösungen und den politischen Konsens, wären wir im Umgang mit Raubtieren schon viel weiter.«
Dass dies politisch nicht gewollt sei, zeige das neue Schweizer Jagdgesetz. Eine Konsenslösung wurde von neun Verbänden aus Landwirtschaft, Naturschutz, Jagd und Forst erarbeitet und sollte eine fachgerechte Lösung im Wolfsmanagement ermöglichen, wurde vom Ständerat und Nationalrat kürzlich aber abgelehnt. Stattdessen soll der Wolf in der Schweiz künftig wie der Steinbock gejagt werden, was die Schäden jedoch kaum verringern wird.
Faktenlose Entscheide
Politische Entscheide in Sachen Wolf werden meist entgegen der Faktenlage gefällt. Statt an Zahlen und Daten orientieren sie sich an Emotionen. Den Grund dafür ortet Systemforscher Thomas Braun unter anderem darin, dass zwar viel Wissen vorhanden sei, dieses aber nur bruchstückartig zusammengesetzt werde. »Das verleitet viele zu Urteilen über Angelegenheiten, von denen sie schlichtweg keine Ahnung haben.« So auch in der Wolfsfrage. Fachlich spreche man von einer »naiven Perspektive«. Das Dumme daran sei, dass der Entscheider voller Gewissheit ein Urteil fälle, ohne zu merken, wie dumm das sei. »Die Selbstüberschätzung von Entscheidern ist heute ein ernsthaftes Problem.«
Systeme durchschauen
Das Beispiel des Yellowstone-Nationalparks zeigt es. Die Komplexität eines Ökosystems zu erkennen, ist nicht einfach. Das findet auch Sozialpsychologe Robert Tobias von der Universität Zürich. »Wir können zwar Strukturen erkennen, sind in einem dynamischen System aber überfordert, wenn eine Handlung mehr als zwei Konsequenzen hat, die wiederum weitere Auswirkungen nach sich ziehen. Unser Arbeitsgedächtnis reicht nicht aus, um alles im Kopf zu behalten.«
Einen Lösungsansatz sieht er darin, die Komplexität zu reduzieren, indem Fachleute die entscheidenden Unterschiede identifizieren und auf die Standpunkte aller Beteiligten eingegangen wird. Also jene der Wolfsforschenden, der Schafhaltenden, der Umwelt- und Jagdverbände, der Politikerinnen und Politiker sowie der lokalen Bevölkerung. »Erst wenn alle den Standpunkt der anderen verstanden haben, kann die Voreingenommenheit überwunden werden. Angegriffen fühlt sich dagegen, wer nicht abgeholt wurde. Dann folgt Widerstand.« Oft aufgrund von Missverständnissen oder bei unterschiedlichen Auffassungen eines Sachverhalts. Der Dialog könne das aber klären.
»Wird Offensichtliches aufgrund starker Gefühle abgelehnt, wird man die Position einer Person kaum mit Argumenten verändern.« In solchen Fällen müsse man auf den Ursprung dieser Emotionen eingehen. Hinzu komme, dass durch Vereinfachungen unterschiedliche Aspekte aus verschiedenen Perspektiven vernachlässigt werden. »Deshalb gelangen Menschen nicht zu den gleichen politischen Schlüssen.« Habe eine Seite die Ökologie im Blick, fokussiere sich die andere auf die Ökonomie. »Beide haben recht, das ist das Dilemma.« Wiegt man die positiven und negativen Effekte des Wolfs miteinander auf, müsse man einen Kompromiss eingehen, der den Wölfen und der Bevölkerung gleichermassen gerecht werde.
Für die Inklusion verschiedener Sichtweisen und Wahrnehmungen macht sich auch Thomas Braun stark: »Genau hier liegt die Lösung: Die Unterschiedlichkeiten unserer individuellen Sichtweisen auf die gleichen Dinge machen das Ganze aus. Sie müssen neu zusammengefügt und neu gedacht werden.« Hierzu könne man die Sache ja auch aus Sicht der Wölfe betrachten. »Wie nehmen sie Bergbahnen, Wanderer und Schafe wahr? Und was würden sie uns sagen? Dass wir Menschen uns überall breitmachen, ihnen keinen Raum geben und sie nicht Wolf sein lassen?«
Erfahrung aus Deutschland
In Deutschland leben bereits seit dem Jahr 2000 wieder Wölfe. Damals war der Nachweis des ersten Rudels in Sachsen eine Sensation. Heute hat sich der Umgang mit dem Wolf vielerorts normalisiert. Seit 2005 begleitet beispielsweise der Nabu, Naturschutzbund Deutschland, die Ausbreitung der Wölfe in Deutschland und setzt sich für den Dialog zwischen Bevölkerung, Weidetierhaltern und Politik ein. Laut Nabu leben gegenwärtig etwa 161 Wolfsrudel, 43 Paare und 21 sesshafte Einzeltiere in Deutschlands freier Natur.
Spannend ist der Blick auch in andere Länder Europas, zusammengefasst im Beitrag »Wo leben Wölfe in Europa?« auf der Nabu-Webseite. Da die meisten Menschen nie einen Wolf in freier Wildbahn sehen werden, sei hier der Bildband »Das Leben unserer Wölfe. Beobachtungen aus heimischen Wolfsrevieren« von Naturfotograf Heiko Anders empfohlen.