Ein Blick mit der Brille der sozialen Praktiken und ein Bewusstsein dafür, woraus diese sich konstituieren, hilft, das eigene Projekt besser zu verstehen und auszugestalten. Im Projekt Nüsse fürs Nürnberger Land, das ich seit 2020 mit aufbaue, fördern wir den Anbau, die Pflege, Ernte und Verarbeitung nahrhafter Baumfrüchte. Damit wollen wir Fülle in die Landschaft bringen. Wir möchten Lebensmöglichkeiten für uns und zukünftige Generationen mehren, indem wir einen Beitrag zu Klima- und Naturschutz und zur Resilienz unserer lokalen Nahrungsversorgung leisten. Wir legen Modellpflanzungen an, ernten und verarbeiten Nüsse, Eicheln und Esskastanien und organisieren Möglichkeiten für Nussbaumbesitzende, die eigenen Nüsse maschinell knacken zu lassen. Darüber hinaus machen wir Veranstaltungen, die Wissen zum Anbau von Nüssen und Esskastanien vermitteln, die inspirieren und Menschen anregen, mit neuem Blick durch ihre Landschaft zu gehen.
Diese Idee und das Anliegen, über Nussgehölze Fülle für uns und zukünftige Generationen sowie für die mehr als menschliche Welt in die Landschaft zu bringen, klingen ja schön. Aber sie sind wenig greifbar. Unsere frisch gepflanzten Bäumchen werden noch etliche Jahre brauchen, bis sie zur Fülle beitragen. Andererseits haben Nussbaumbesitzende in manchen Jahren so viele Nüsse, dass sie nicht wissen, wohin damit. Sie nehmen die Unmengen Nüsse nicht als Fülle, sondern eher als Belastung wahr und ziehen in Erwägung, sich durch das Fällen ihres Baumes von dieser Belastung zu befreien.
Wir brauchten also etwas, das die mögliche Fülle, die aus Nüssen entstehen kann, konkret und sinnlich erfahrbar macht. Als Nussmus-Fans entschieden wir uns, statt des üblichen Mandel-, Hasel- oder Erdnussmuses, deren Zutaten in der Regel weit von uns entfernt heranwachsen, Walnussmus herzustellen. Im Glas Walnussmus, das ich kosten kann und mit dem ich in meiner Küche experimentieren kann, erhält die Idee der Fülle ihre Entsprechung in einem materialen Gegenstand, den ich kosten und genießen kann.
Und auch hier steckt der Teufel im Detail: Unserem Projekt sehr wohlgesonnene Mitarbeitende in der Regionalentwicklung rieten uns, unser Projekt darauf zu konzentrieren, schnell ein »vermarktungsfähiges Produkt« zu entwickeln. Doch genau damit wären wir wieder in die Falle etablierter mentaler Infrastrukturen geraten – nämlich der der Vermarktlichung. Diese besagt, dass man die Bedürfnisse der Menschen am besten stillt, indem man Güter über den freien Markt und die damit verbundenen Praktiken des Kaufens und Verkaufens, der Preisbildung über Angebot und Nachfrage zwischen Menschen zirkulieren lässt. Das widerspricht jedoch der Bedeutungsebene unseres Projekts, nämlich uns Menschen als Hütende verstehen, die die Fülle der Landschaft mehren können und in der wir uns durch sie beschenken lassen können.
Wir haben im letzten Herbst und Winter aus der Ernte von Nussbäumen in unserer Umgebung, die wir beernten durften, vierhundert Gläser Nussmus hergestellt und viele Menschen haben in Mitmachaktionen ihre Zeit dafür geschenkt. Allerdings hatten wir auch nicht unerhebliche monetäre Kosten. Wie also nun das Nussmus auf eine Weise unter die Menschen bringen, die einerseits unsere Vision befördert und die Verbindung der Beitragenden zum Projekt stärkt und andererseits unsere Kosten wieder einspielt? Wir hätten das Nussmus zum ermäßigten Preis für die Beitragenden und zum vollen Preis für alle anderen verkaufen können. Wie in den vorangegangenen Jahren wollten wir aber gern weiterhin auch Nussmus verschenken können. Denn die Bedeutung der sozialen Praktik des Schenkens passt viel besser zur Bedeutungsebene
unseres Projekts und zum Sinnbild der Fülle. Wir haben uns dazu entschlossen, eine Kalkulation zu erstellen, die uns ermöglicht, ein Drittel zu verschenken, ein Drittel zum ermäßigten Preis und ein Drittel zum realen Preis zu verkaufen. Das zu kommunizieren, brauchte wiederum besondere Kompetenzen. Hier konnten wir uns an den bereits vorhandenen Erfahrungen der Solidarischen Landwirtschaften mit ihren transparenten Kalkulationen orientieren.
Sukzession im Sozialen
Es ist hilfreich, das Erblühen, sich Etablieren und Vergehen sozialer Praktiken und ihre Ablösung durch neue Praktiken auch als Sukzessionsprozess zu verstehen. Es wäre in meinen Augen sehr spannend zu erkunden, was alles dazu beigetragen hat, dass sich Solidarische Landwirtschaften in den letzten Jahren so stark verbreiten konnten. Dies hat unter den Ernteteilenden den Erwerb neuer Kompetenzen oder das Wiederaufwecken schlafender sozialer Praktiken gefördert. Wie koche ich saisonal? Wie mache ich Ernte haltbar? Und die Gärtner*innen brauchten plötzlich in viel umfassenderer Weise soziale und kommunikative Kompetenzen – für die Anleitung der Helfenden, für das Erläutern von Gründen für Ernteausfälle, das Transparentmachen der Kalkulation.
Die Solawis haben für alle Beteiligten aber auch Berührungspunkte geschaffen mit einer anderen Art zu wirtschaften: dass ich mit meinem Geld eben nicht eine bestimmte Menge von Produkten erwerbe, sondern eine bestimmte Art des Gemüseanbaus ermögliche. Die Solawis können wir denken als Pionierpflanzen, die den Boden bereiten für weitere Formen gemeinschaftsgetragenen Wirtschaftens. Wie etwa eine Zeitschrift oder Ferienfreizeiten in der Natur für Kinder, die eine Gemeinschaft finanziert. Und auch wir haben für den ersten Verkauf unseres Nussmuses den vorbereiteten Boden unserer Erntegemeinschaft genutzt und uns gleich zweier weiterer Strategien fürs Etablieren neuer sozialer Praktiken bedient – der Co-Örtlichkeit und der Co-Zeitlichkeit: Der Verkauf fand im Depot während der wöchentlichen Abholzeit der Gemüseernte statt. Und wir haben uns mit unserem Nussmus an eine sehr etablierte soziale Praktik angedockt, nämlich der, dass man sich zu Weihnachten gegenseitig Geschenke macht.
Unsere Ankündigung fruchtete. Gleich zur Depotöffnung strebte eine Frau zielstrebig auf uns zu und kaufte direkt zwölf Gläser und hatte damit für all ihre Lieben ein besonderes, leckeres, ethisch sehr vertretbares Weihnachtsgeschenk erstanden. Und dennoch war der Erfolg unserer ersten Verkaufsaktion im Vorfeld alles andere als sicher. Wir hätten beispielsweise zu spät sein können eine Woche vor Weihnachten. Denn so genau wussten wir nicht, wann Menschen üblicherweise ihre Weihnachtsgeschenke erstehen. Die Forschung zur Dynamik sozialer Praktiken, zu den Mustern ihrer Verknüpfung sowie zu den Kurven ihres Aufstiegs und Verfalls zeigt, dass es unangebracht ist, in einfachen Ursache-Wirkungsschemata zu denken. Vielmehr bilden auch soziale Praktiken ein vielschichtig verflochtenes Gewebe aus sich gegenseitig stärkenden, wechselseitig voneinander abhängigen oder miteinander konkurrierenden Praktiken, denen wir uns am ehesten durch systemisches Denken nähern.
Impulse setzen, Fragen stellen!
Für uns als Gestaltende heißt das, eher mit punktuellen Interventionen in Form von Impulsen zu arbeiten und die Resonanz zu beobachten, bevor wir uns für den nächsten Impuls entscheiden. Dennoch gibt es eine Reihe von Leitfragen, die ich mir stellen kann:
- Welche sozialen Praktiken will mein Projekt befördern?
- Was sind deren charakteristische Materialien, Kompetenzen und Bedeutungen?
- Wie kann ich diese befördern?
- Welche dominanten bestehenden Praktiken will ich unterbrechen?
- In welchen räumlichen und sozialen Kontexten bewege ich mich eigentlich?
- Wie kann ich an dort Vorhandenes anknüpfen und es nutzen, um Neues zu etablieren? – indem ich Praktiken variiere, Infrastrukturen umnutze, dem Tun eine neue Bedeutung gebe?
Im Nüsseprojekt knüpfen wir an die bekannten Praktiken der Pflege und Beerntung von Nussbäumen an, befördern »schlafende« Praktiken, bei denen das passive Wissen noch da ist, die aber derzeit nur von wenigen praktiziert werden, wie zum Beispiel das tägliche Aufsammeln und Trocknen von Nüssen. Mit diesen bekannten Praktiken verknüpfen wir neue: das Kultivieren von Walnusssorten statt nur Sämlingen, das maschinelle Knacken von Walnüssen statt ausschließlich per Hand, das Anpflanzen von Esskastanien als weiterer Baumkultur mit nahrhaften Früchten, das Anlegen von Agroforstsystemen, die gemeinschaftliche Beerntung und Verarbeitung von Nüssen, das Herstellen und Essen von Nussmus.
Unser Nussmus wird in einem Cutter hergestellt, den jede Metzgerei zum Wurstmachen hat. Damit haben wir eine vorhandene Infrastruktur umgenutzt. Indem wir eine Wanderung über unsere Flächen mit einer Lesung verknüpft haben, haben wir das Wandern angereichert um Gespräche über die Landschaft und unsere Rolle als Menschen darin, und es hat eine neue Bedeutung bekommen.
Durch Strategien der Co-Örtlichkeit oder der Co-Zeitlichkeit kann ich an etablierte Praktiken anknüpfen und meine Praktik andocken, wie beim Verkauf des Nussmuses im Depot der Solawi kurz vor Weihnachten. Ich kann mich fragen, welche vielversprechenden Praktiken in der letzten Zeit entstanden sind und welche Kompetenzen befördert wurden, die ich auch für das, was ich anstrebe, brauchen kann. Das Wissen um gemeinschaftsgetragenes Wirtschaften in Solawis und die dort praktizierte Transparenz zu Produktions- und Betriebskosten hat die Preisbildung für unser Nussmus und deren Kommunikation inspiriert. Und wie kann ich das Warum, also die mit den Aktivitäten verbundenen Sinngebungen und Intentionen, stärken? Hier heißt es, wie oben am Beispiel der Vermarktlichung beschrieben, wachsam und widerständig zu sein, damit nicht der vielversprechende neue Ansatz von dominanten Praktiken einverleibt wird und die eigentliche Sinngebung verlorengeht.
Im Sinne einer Zonierung bewegen wir uns beim Befördern gesellschaftlicher Transformation immer in der Randzone des »Interessanten«, die sich zwischen dem Bekannten und Vertrauten auf der einen Seite und dem komplett Fremden auf der anderen Seite befindet. Hat das, was ich vorhabe, hinreichend bekannte Aspekte, um den Menschen, die ich anspreche, verständlich zu sein? Und hat es ausreichend neue, um transformativ wirken zu können? Damit wir diese Balance immer wieder herstellen zu können, brauchen wir auch im Nüsseprojekt Strategien, um ausreichend Feedback zu erhalten, um das Gelingen oder Misslingen unseres Tuns einschätzen können. Wir brauchen einerseits Beharrlichkeit in der Kommunikation dessen, worum es uns geht – durch Handlungen und Worte. Und andererseits brauchen wir die Bereitschaft, mit der Planung unserer konkreten Vorhaben immer wieder flexibel zu reagieren auf das Feedback und auf die Möglichkeiten, die sich durch Veränderungen im Umfeld des Projekts eröffnen. Diese Mischung aus Beharrlichkeit im Verfolgen einer Vision, prozessorientiertem Aufnehmen von Feedback und Anpassen des eigenen Tuns, sind genau die Kompetenzen, in denen ich mich als Permakultur Gestaltende lange geübt habe und die ich nun in das Projekt einbringen kann.