von Marc Dannhausen
In permakulturellen Betrachtungen wird oft von Systemen oder gar komplexen Systemen gesprochen. Doch was ist ein System und was bedeutet eigentlich Komplexität? Ist mehr Komplexität besser als weniger? Und wie hilft mir dieses Wissen bei meiner Permakultur-Gestaltung? Die nachfolgende Auseinandersetzung ist vor allem als Einladung zu verstehen, sich näher mit diesem Themenkomplex zu beschäftigen. Ich möchte versuchen, Antworten auf die oben genannten Fragen zumindest nahe zu kommen, mit Blick vor allem auf den eigenen Selbstversorgergarten.
Was ist ein System?
Am einfachsten können wir uns ein System als ein Netz vorstellen, als eine Verbindung von Dingen oder Ereignissen. Diese Verbindung kann aus einfachen Abhängigkeiten, aber auch aus unüberschaubaren Rückkopplungsschleifen bestehen. Dazu zwei Beispiele:
Erstens: Ein vereinfacht dargestelltes Heizsystem ist einfach zu durchschauen: Der Thermostat reagiert auf fallende beziehungsweise steigende Temperaturen, indem er die Heizung ein- oder ausschaltet, um die Temperatur zu regeln. Ist das System aber einmal in Gang, können wir uns fragen: Regelt der Thermostat die Temperatur, oder ist es umgekehrt? Thermostat und Temperatur beeinflussen sich gegenseitig und lösen dadurch bestimmte gewollte Ereignisse aus. Solange wir weitere Einflussfaktoren ausschließen können, handelt es sich damit um einen einfachen Regelkreislauf, der weder kompliziert noch komplex ist.
Zweitens: Ein Straßennetz, das hauptsächlich aus Einbahnstraßen besteht, ist zunächst schwierig zu durchblicken. Man könnte auch sagen, es ist kompliziert. Von Komplexität würde man hier aber noch nicht sprechen, denn mit etwas Geduld können wir uns die einzelnen Straßenverläufe einprägen und uns so in diesem Netz zurechtfinden. Damit dieses Straßennetz ein komplexes System wird, müssen wir gegenseitige Abhängigkeiten zwischen den Elementen des Systems einbauen. Das gelingt uns, wenn wir beispielsweise die Richtung der Einbahnstraßen vom Verkehrsaufkommen abhängig machen. Die Straßenführung ist nun hoch variabel: Je nach Verkehrsdichte ändert sich die Richtung der Einbahnstraßen, sodass der Verkehr zügig fließt und Stauungen vermieden werden. Wenn sich die Richtung der einen Straße ändert, ändern sich aber auch die Richtungen der jeweils angeschlossenen Straßen und so weiter, was wiederum die Verkehrsdichte in diesen Straßen beeinflusst. So entsteht ein Rückkopplungsmechanismus, der es unmöglich macht, die Verkehrsführung mit einem Blick auf die einzelnen Straßen zuverlässig vorherzusagen.
Ein komplexes System ist also im Wesentlichen charakterisiert durch:
- seine Elemente beziehungsweise Ereignisse,
- Rückkopplung zwischen den Elementen/Ereignissen,
- seine Bestimmung, Aufgabe, Funktion oder Nutzen,
- die Unvorhersehbarkeit seines Verhaltens.
Systeme erschaffen sich selbst
Diesen Vorgang können wir beobachten, wenn wir den Boden freilegen oder einen Erdhügel sich selbst überlassen – und nennen ihn Sukzession: Erste Pflanzen mit sehr kurzer Vegetationsdauer bedecken den Boden. Diese Pionierpflanzen verändern die Bedingungen in einer Weise, dass sie selbst nicht fortbestehen können, und machen Platz für Pflanzen der nächsten Sukzessionsstufe und so weiter. Unterschiedliche Arten, Pflanzen und Tiere, siedeln sich an und gehen sichtbare oder unsichtbare, direkte oder indirekte Verbindungen miteinander ein.
In der Biologie ist derartige Selbstorganisation gleichbedeutend mit Evolution, und diese ist immer als Koevolution zwischen sich verändernden Organismen und ihrer Umwelt zu sehen. Ein Lebewesen, das infolge einer genetischen Veränderung nicht mehr fliegen kann, wird einen völlig neuen Lebensraum erschließen und seine Umwelt entsprechend mitgestalten.
Dadurch geraten die bereits ansässigen Pflanzen und Tiere ebenfalls unter Anpassungsdruck. Lebende Systeme sind somit in der Lage, neue eigene Strukturen und Verhaltensweisen zu schaffen und sich so selbst komplett zu ändern.
Dieses Verhalten zeigt, dass ein komplexes System mehr ist als die bloße Summe seiner Teile: Seine Elemente stehen in permanenter Wechselwirkung zueinander und verändern so immer wieder das Verhalten des Gesamtsystems. Etwas höher Organisiertes entsteht, das sich aus dem bloßen Beobachten der einzelnen Elemente nicht ableiten lässt. Das Fachwort dafür lautet Emergenz.
Die Elemente eines Systems, zum Beispiel die Pflanzen und Insekten sowie der Boden eines Gartens, können ihrerseits als Systeme betrachtet werden. Der Garten wiederum ist Element einer Wohnsiedlung und so weiter. So besteht beinahe jedes komplexe System aus kleineren Systemen und bildet mit anderen wieder größere Systeme mit übergeordneter Funktion. Notwendig für deren Erhalt ist Energiezufuhr von außerhalb des Systems. Dies geschieht in Form von Wärme oder Nahrung oder auch von Geld in der Wirtschaft oder Kommunikation in sozialen Systemen.
Wegen der starken Verknüpfung zwischen den Systemen untereinander beziehungsweise mit ihrer Umwelt ist eine klare Trennung wie oben beschrieben nicht immer einfach. Die Systemgrenzen definieren wir Beobachtende. Es geschieht durch das Unterscheiden zwischen innen und außen, zwischen Baum und Wald, Mensch und Gemeinschaft, Garten und Gärtnerin. Dabei ist das eine ohne das andere gar nicht denkbar. Die Grenzen sind derart durchlässig, dass eher von Übergängen die Rede sein sollte, zum Beispiel beim Waldrand: Hört der Wald bei der letzten Baumreihe auf oder im niedrigen Gestrüpp, das weit in die Landschaft ragt? Oder vielleicht dort, bis wohin seine Bewohner aus ihm heraustreten?
Systemdenken im Garten
In unserer komplexen Welt, wo scheinbar irgendwie alles mit allem zusammenhängt, ergibt diese Vereinfachung jedoch durchaus einen Sinn. Sie hilft uns, zumindest einzelne Vorgänge zu verstehen und sinnvoll zu reagieren. So reicht es fürs erste zu begreifen, dass ich den Boden meines Gartens gesund erhalten muss, damit die Pflanzen gesund wachsen und ich gesundes Obst und Gemüse ernten kann. Wie genau die geeigneten Maßnahmen auf den Boden wirken, ist interessant, aber nicht zwingend nötig zu wissen.
Was passiert, wenn ich die Verbindung zwischen einzelnen Elementen kappe oder ein Element entnehme? Ganz einfach: Ich muss die Verbindung durch eigenes Tun wiederherstellen.Wenn ich Fruchtgemüse, das auf Fremdbefruchtung angewiesen ist, im geschlossenen Gewächshaus ziehe, kappe ich dadurch die Verbindung zwischen dem Gemüse und den befruchtenden Insekten. Ich werde also keine Früchte ernten können, es sei denn, dass ich gelegentlich die Tür öffne, ein Hummelvolk mit einschließe oder selbst mit dem Pinsel bestäube.
Wenn ich die Population einer einzelnen Insektenart komplett auslösche, hat das Einfluss auf ganze Nahrungsketten. Denn dieses Insekt fehlt dann auf der einen Seite als Futter und auf der anderen Seite als Fressfeind anderer Tiere. Und es wird weitere Effekte geben, da Insekten in eine Vielzahl weiterer Beziehungsgefüge eingebettet sind. Auch wenn ein Insekt fehlt oder wenn ich keine Lust mehr auf Erdbeeren habe und die Pflanzen herausnehme, wird das System Garten bestehen bleiben, aber mit veränderter Struktur.
Als Gärtner bin ich selbst Element dieses Systems und übernehme die Aufgabe, einerseits Störungen von außen auszugleichen und andererseits zu verhindern, dass sich der Garten selbstorganisiert bis zur Wildnis weiterentwickelt. Ich fördere Stabilität, indem ich beispielsweise mit einem Wassermanagement der Austrocknung vorbeuge sowie dem Wuchern von Brombeere und Gehölzsämlingen entgegenwirke. So wie Vegetation und Tierpopulationen auf meine Maßnahmen mit Gedeih oder Flucht reagieren, beeinflusst deren Verhalten mein Handeln.
Als Permakultur-Gärtner fördere ich Komplexität, indem ich den Garten vielfältig und eher kleinteilig gestalte. Das heißt, es gibt Mischkulturen, es gibt kleine Flächen mit unterschiedlichen Kulturen, die beispielsweise durch Obststräucher voneinander getrennt sind, genauso niedrige und höhere Pflanzen, um wärmere oder schattigere Habitate zu schaffen.
Des Weiteren gibt es unterschiedliche Zonen, je nach Intensität der Bewirtschaftung:
- Zone 1: Hütte
- Zone 2: hauptsächlich intensive Kulturen
- Zone 3: dauerhafte Kulturen wie Obst, aber auch weniger intensive Kulturen wie Kartoffeln
- Zone 4: Weide und Futterpflanzen (nicht vorhanden)
- Zone 5: nicht bewirtschaftete, »wilde« Fläche
Die Komplexität kann sich von Zone zu Zone deutlich unterscheiden. Aber dadurch, dass ich diese unterschiedlichen Zonen überhaupt habe, lasse ich im Gesamtsystem Garten ein hohes Maß an Komplexität zu, insbesondere dort, wo die Zonen ineinander übergehen.
Neben Stabilität und Komplexität fördere ich auch die Resilienz. Das bedeutet soviel wie Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit. Sie erreiche ich durch ein hohes Maß an Biodiversität, also möglichst vielen unterschiedlichen Arten, an genetischer Vielfalt der Arten sowie unterschiedlicher Ökosysteme, in denen die Arten leben. Eine hohe Biodiversität bedeutet gleichzeitig eine hohe Komplexität. Mit gezielten Maßnahmen schon in der Planung kann ich dafür sorgen, dass das System nicht zugrunde geht, wenn ein Element ausfällt oder eine Verbindung aufgelöst wird.
Zum Beispiel sollten verschiedene Elemente im Permakulturgarten dieselbe Aufgabe erfüllen, für den Fall, dass eines ausfällt, oder auch um Lücken im zeitlichen Verlauf zu vermeiden. Als Beispiel seien Pflanzen genannt, die übers Jahr gleichzeitig oder nacheinander blühen und somit durchgängig Nektar für Insekten liefern. Des Weiteren wählen wir Elemente aus, die möglichst viele Aufgaben erfüllen beziehungsweise Nutzungsmöglichkeiten bieten.
Zu viel Komplexität?
Im Gemüsebeet, wo das Feingemüse wie Karotten und Kohlrabi steht, halte ich hingegen die Komplexität so gering wie nötig, damit es nicht von schneller wachsendem Begleitkraut überwuchert wird. Hier muss ich ständig eingreifen und den Boden mechanisch mehr oder weniger frei von »wildem« Bewuchs halten. Außerdem drängt der Wunsch, den Untergrund von Wühlmäusen freizuhalten und damit Komplexität einzudämmen.
In einem naturnahen Garten können Regeln greifen, die auch in natürlich gewachsenen Landschaften vorkommen und das System am Leben halten. Es gibt dort Pflanzennachbarn, die sich gegenseitig begünstigen beziehungsweise die vorhandenen Ressourcen unterschiedlich Nutzen. Gleichzeitig bleibt Raum für nicht vorhersehbare Entwicklung, beispielsweise die Ansiedlung weiterer Pflanzen und Tiere – und zwar erst einmal unabhängig davon, ob sie als »Nützling« oder als »Schädling« daherkommen. Hier gilt es, Selbstregulation zu nutzen und Feedback zu akzeptieren.
Gibt es Schädlinge im Garten, zum Beispiel Blattläuse, dann weiß ich, dass jemand davon profitieren wird: als erste die Ameisen, als zweite Marienkäfer und ihre Larven, als dritter Ich. Zum einen kann ich entspannen und muss aufgrund dieser Selbstregulation nicht tätig werden, zum anderen erfreue ich mich an der Vielfalt der Käfer. Viel Blattmasse erreiche ich, wenn ich beispielsweise Salatrauke (Rucola sativa) im stark gedüngten Tomatenbeet aussäe. Das Feedback: große Blätter, beschatteter Boden, aber miserabler Geschmack.
Gärtnern und beobachten!
Wenn ich das Verhalten meines Systems Selbstversorgergarten immer wieder beobachte, erkenne ich wiederkehrende Muster. Auch wenn diese nur ein Bruchstück dessen darstellen, was insgesamt passiert, kann ich lernen, mit der Komplexität umzugehen und geeignete Lösungen für bestimmte Probleme zu finden. Die Dynamik komplexer Systeme macht deutlich, wie wichtig kleine und langsame Lösungen sind, weil kaum zu ermessen ist, welche Rückkopplungsschleifen jeweils in Gang gesetzt werden. Kleine Eingriffe lassen sich außerdem leichter rückgängig machen, wenn die Entwicklung meinen Erwartungen entgegenläuft.
Das heißt: Je weniger ich in Gartensysteme eingreife und je mehr Komplexität ich zulasse, desto weniger Aufgaben muss ich übernehmen, um es gesund und leistungsfähig zu halten. Andererseits ist das geduldete Höchstmaß an Komplexität erreicht an der Grenze, wo die angestrebte Nutzbarkeit endet, zum Beispiel im Feingemüse- oder Anzuchtbeet.
Literatur zum Weiterlesen:
- Humberto Maturana/Francisco Varela: Der Baum der Erkenntnis
- Klaus Richter/Jan-Michael Rost: Komplexe Systeme
- Niklas Luhmann: Soziale Systeme
- Jürgen Beetz: Feedback
- M. Mitchell Waldrop: Inseln im Chaos
- Donella H. Meadows: Die Grenzen des Denkens