Wenn wir mit Permakultur gesellschaftliche Transformation in Richtung Zukunftsfähigkeit befördern wollen, brauchen wir ein Verständnis davon, auf welche Weise unser Alltagshandeln eigentlich geformt wird. Wovon ist es abhängig, ob ich am Morgen als Erstes unter die Dusche springe oder mich mit einer Waschschüssel wasche? Wovon ist abhängig, ob ich es als normal oder sogar unumgänglich betrachte, täglich 30 Kilometer hin und 30 Kilometer zurück mit dem Auto zur Arbeit zu fahren? Wovon ist abhängig, ob ich den Winter und die dunkle, graue Zeit als Teil meines Lebens betrachten und willkommen heißen kann, oder ob es jeden Winter mein größter Wunsch ist, der Kälte und Dunkelheit wenigstens für ein paar Wochen in den Süden entfliehen zu können?
Ich möchte in diesem Artikel eine Anregung aus den Kultur- und Sozialwissenschaften aufgreifen, nämlich Kultur und Gesellschaft als Gewebe sozialer Praktiken zu verstehen. Ich möchte anschaulich machen, was wir als Permakultur Gestaltende gewinnen können, wenn wir menschliches Handeln als eingebunden in soziale Praktiken verstehen und dieses Verständnis in unseren Werkzeugkoffer aufnehmen.
Muster unseres Alltags
Unsere Kultur ist ein Gewebe sozialer Praktiken. Diese sozialen Praktiken, wie zum Beispiel das tägliche Duschen, das in den letzten 30 Jahren sehr verbreitet war, werden von ihren Trägern und Trägerinnen – also von uns – immer wieder neu aufgeführt wie eine Performance im Theater. Da jedoch keine Theatervorstellung der nächsten genau gleicht, wandeln auch wir soziale Praktiken ab, während wir sie aufführen, variieren sie oder verknüpfen sie neu.
In der Sprache der Permakultur sind soziale Praktiken nichts anderes als Muster menschlichen Handelns. Wir putzen uns alle täglich die Zähne und es ist für andere als »Zähneputzen« erkennbar, auch wenn die konkrete Ausgestaltung, ob etwa jemand den Mund dabei offen oder geschlossen hält, individuell verschieden sein kann. Wir nutzen zum Zähneputzen eine Zahnbürste, Wasser und ein Putzmittel wie Zahnpasta oder Zahnputzpulver. Das Zähneputzen hat für uns einen bestimmten Sinn, wir verbinden damit ein bestimmtes Anliegen, beispielsweise die Gesunderhaltung unserer Zähne oder ein Gefühl von Frische im Mund. Und wir brauchen bestimmte Fähigkeiten, um uns die Zähne putzen zu können. Kleine Kinder lernen, wie sie ihre Zähne so putzen, dass sie alle Zahnflächen und Zahnzwischenräume erwischen. Es gibt für sie sogar ein spezifisches Zahnputztraining.
Am Beispiel des Zähneputzens zeigen sich schon die Elemente, aus der jede soziale Praktik zusammengesetzt ist, nämlich Materialien, Bedeutung und Kompetenz: Jede soziale Praktik hat eine Materialität. Sie braucht Materialien, damit die Trägerinnen dieser Praktik diese ausführen können, also Werkzeuge wie hier die Zahnbürste und bestimmte Infrastrukturen – wie hier das Vorhandensein von sauberem Wasser und im Idealfall einem Waschbecken.
Jede soziale Praktik hat eine oder mehrere Bedeutungen. Mit ihr sind Formen der Sinngebung, bestimmte Wertvorstellungen und Intentionen verbunden, ein Verständnis dafür, warum man das eigentlich macht und was in diesem Zusammenhang undenkbar wäre. Für jede Praktik brauchen ihre Trägerinnen Kompetenzen, also spezifisches Wissen, Fähigkeiten und Erfahrungen. Diese sind zum Teil, wie im Fall des Zähneputzens in unseren Körper als unhinterfragt verfügbares Körperwissen eingeschrieben. Unser Körper weiß durch jahrelanges Training, wie er Zähne putzt. Wir müssen nicht mehr darüber nachdenken.
Geteilte Bedeutung und Sinn
Warum ist Zähneputzen eine soziale Praktik, obwohl ich sie doch eher allein ausübe? Die Sozialität von Praktiken entsteht durch gemeinsam geteilte Bedeutungen und Sinngebungen. Ich kann davon ausgehen, dass du dir aus ähnlichen Gründen die Zähne putzt wie ich. Nun ist gegen Zähneputzen aus ökologischer Sicht wenig einzuwenden. Anders sieht es mit weiteren, derzeit sehr etablierten sozialen Praktiken aus, wie dem Autofahren zur Arbeit oder zum Einkauf, dem In-den-Urlaub-Fliegen, dem Wohnen in Einfamilienhäusern und in großen Räumen, dem Streamen von Filmen oder dem Genießen der leckeren und gesunden Flugmango aus Ecuador.
Welche Erkenntnisse gibt es aus der praxistheoretischen Forschung, wie soziale Praktiken sich verändern? Wie können wir als Permakultur Gestaltende diese Erkenntnisse nutzen, um soziale Praktiken zu entwickeln und zu etablieren, die regenerativ sind, also Lebensmöglichkeiten für menschliche und mehr als menschliche Wesen mehren, statt zu zerstören? Ein Blick auf Gesellschaft als Gewebe sozialer Praktiken hilft uns erst einmal zu verstehen, was ist und wie es historisch geworden ist: Woraus bezieht eine etablierte Praktik ihre Kraft und Wirkmächtigkeit?
Wie konnte sich zum Beispiel das tägliche Duschen etablieren, obwohl es aus gesundheitlicher Sicht eher fragwürdig ist? Forschungen dazu legen nahe, dass das Duschen als neue Praktik der Körperhygiene zusätzlich zur Zielsetzung der Sauberkeit auch noch mit dem Anliegen, frisch zu sein, verknüpft wurde. Die Frische, die vorher eher mit Luft verknüpft wurde, wurde auf den Körper und die zu tragende Kleidung übertragen, was dann übrigens auch zu einer viel höheren Taktung des Wäschewaschens führte. Hinzu kam die Verbreitung von Bädern in Wohnungen, von Duschköpfen und Duschwänden, die man auf die häufig bereits vorhandenen Badewannen installieren konnte. Bedeutungsverschiebung und neue Infrastruktur trafen zusammen.
Um Praktiken zu transformieren, kann ich an jeder ihrer drei zentralen Zutaten ansetzen, an ihrer Materialität, an ihrer Bedeutung, an den nötigen Kompetenzen: Neue Technologien (also Materialien) führen dazu, dass sich Praktiken verändern. Das Navi im Auto befördert es, dass nur noch wenige Menschen den Atlas zurate ziehen, um sich zu orientieren und dass Menschen verlernen, Karten zu lesen. Wenn Bevölkerungsgruppen eine etablierte Praktik wie das Gärtnern in städtischen Räumen übernehmen und mit anderen Bedeutungen versehen, nämlich statt mit Privatheit im eigenen Schrebergarten mit der Rückeroberung städtischer Räume und mit Selbstermächtigung, ändert sich die gesamte Praktik. Neue Kompetenzen werden gebraucht – neben dem Gärtnern auch die Praktiken der Kommunikation, Organisation und Entscheidungsfindung in Gruppen.
Wichtig aus praxistheoretischer Perspektive scheint, nicht nur den Fokus auf das Etablieren neuer Praktiken zu legen, sondern auch zu fragen, wie dominante bestehende Praktiken, die jedoch nicht hilfreich sind, unterbrochen werden können. Im inklusiven Gemeinschaftsgarten in Freiburg, der neben den Gemeinschaftsbeeten auch jede Saison Beete fürs private Gärtnern vergibt, war es die Weigerung, eine Warteliste zu führen, die ermöglicht hat, dass die Beete tatsächlich von Menschen mit diversen Hintergründen begärtnert werden. Die Warteliste, eine in unserer Kultur bekannte und gern genutzte Praktik, um knappe Plätze zu vergeben, hätte Menschen, die in unserer Kultur sozialisiert sind – einer Kultur, in der vorausplanendes Handeln und Schriftlichkeit einen hohen Stellenwert haben – einen Vorteil beim Ergattern der raren Beete verschafft. Nach kürzester Zeit wäre das ursprünglich inklusiv und auf Diversität angelegte Projekt von weißen, hier sozialisierten Menschen der Mittelschicht dominiert gewesen.
Zum Nachlesen:
Shove, Elizabeth (u.a.): The Dynamics of Social Practice. Everyday Life and how it changes.
London 2012.