Wer oder was sind Rebell*innen des Friedens?
Der Ausdruck wurde unter anderem vom Dalai Lama in seinem Buch »Der neue Appell des Dalai Lama an die Welt: Seid Rebellen des Friedens« geprägt. Der Begriff wird seitdem in unterschiedlichen Kontexten aufgegriffen. So auch beim gleichnamigen Symposium, zu dem die Gemeinschaft Sulzbrunn im Mai 2019 für eine Woche eingeladen hatte. Ziel war es, die Vernetzung von Friedens-Aktivist*innen aus unterschiedlichen Erdteilen zu fördern und sie für engagiertes Handeln in der Zukunft weiterzubilden. Eine von vielen Fragen, die sich Sina während dieser Veranstaltung stellte, war: Welche Form hat zeitgemäßer Aktivismus und was heißt es konkret für mich, ein Rebell des Friedens zu sein?
Im Spannungsfeld zwischen politischem Handeln und spirituellem Aktivismus
Das Symposium lockte eine Vielfalt an Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen an. Es gab viele Einzelpersonen, die aus privatem Interesse an dem Symposium teilnahmen, aber auch Vertreterinnen von Organisationen, die sich entweder direkt oder indirekt mit Friedensarbeit auseinandersetzen. So waren neben Vertreter*innen von »Ende Gelände« und »Extinction Rebellion« beispielsweise auch das »Global Ecovillage Network« , »Mehr Demokratie e. V.« oder auch das Permakultur Institut e. V. (vertreten durch Declan Kennedy und Sina) auf dem Symposium.
Trotz der hohen Vielfalt an unterschiedlichen Teilnehmenden, teilte sich die Menge in Sinas Wahrnehmung in zwei relativ gleich große Gruppen:
Die erste Gruppe besteht in erster Linie aus jungen Menschen unter 30 Jahren mit einem ausgeprägten Handlungsimperativ. Hier sind vor allem Aktivist*innen dabei, die politisch an vorderster Front aktiv sind, zum Beispiel bei Aktionen von »Ende Gelände« oder der Waldbesetzung vom Hambacher Forst.
In der zweiten Gruppe ist der Altersdurchschnitt bei circa 60 Jahren (oder älter). Einige von ihnen haben einen Hintergrund im politischen Aktivismus der 1960er oder 1970er Jahre und sind jetzt eher Vertreter*innen des so genannten »Sacred Activism«.
Sacred Activism könnte mit spirituell bewusstem Aktivismus übersetzt werden. Bei einem Vortrag auf dem Symposium wurde von den Herausgebenden des Magazins »evolve« ein Versuch unternommen, etwas mehr Klarheit in die Begrifflichkeit zu bringen. Dabei identifizierten sie zum Beispiel die folgenden vier Wege des Sacred Activism:
Bewahrende Handlungen: heilige Elemente und Leben auf der beziehungsweise als Erde schützen sowie verteidigen
Verbindungen stärken: menschliche Beziehungen und die Beziehung zur Mutter Erde
Zeugnis ablegen: über die Freude und das Leid auf der Welt
Das große Mysterium aktivieren: den Raum zwischen Menschen verzaubern
In Sinas Wahrnehmung entstand auf dem Symposium ein Spannungsfeld zwischen „der jungen Generation“, die sich vor allem über ihren politischen Aktivismus profiliert, und einer „älteren Generation“, die den Weg zur Friedensbildung eher in einer bedächtigeren Form des spirituellem Aktivismus beschreitet.
Am letzten Tag des Netzwerktreffens, war der ursprüngliche Plan der Organisator*innen , dass die Teilnehmenden sich in Kleingruppen darüber austauschen sollten, wie ihre nächsten Schritte aussehen würden. Es kam zu Vorschlägen von Teilnehmenden, die den Vorschlag der Organisator*innen in Frage stellten.
„Warum sollen wir uns mit Spirituellem beschäftigen, wenn im Mittelmeer Menschen ertrinken?“
Für viele Teilnehmenden wurde diese Diskussion als anstrengend und wenig zielführend empfunden. Schließlich ergriff eine Person das Wort und bezeichnete die aktuelle Situation als „Chaos“ und forderte gleichzeitig dazu auf, dieses Chaos zuzulassen, da es wichtig sei, solche Situationen zu ertragen. Dieser Beitrag traf unter vielen Beteiligten auf Zustimmung und Sina konnte ihm ebenfalls etwas abgewinnen. Dennoch machte er ihn nachdenklich. Denn Sina empfand die aktuelle Situation auf dem Symposium keineswegs als Chaos, sondern als ein gesundes Maß an Lebendigkeit in einem emergenten Prozess. Ihm kommt in diesem Moment eine persönliche Erkenntnis zum Zusammenhang von Frieden, Chaos und Lebendigkeit.
Was ist eigentlich Frieden?
Doch bevor dieser Zusammenhang genauer erläutert wird, folgt noch eine Anekdote, die den Prozess von Sina gut abbildet: In seinen zwanziger Jahren hat Sina viel Zeit in Indien verbracht. Während seiner ersten Indienreise war der Straßenverkehr für ihn eine große Herausforderung. Er empfand ihn als völlig chaotisch.
„Warum wird ständig gehupt? Warum fahren alle so durcheinander? Und was machen denn bitte die Kühe hier, mitten auf der Straße?“
Gewohnte Muster der Verkehrsordnung (Ampeln, Vorfahrtsregeln, Sicherheitsabstände et cetera) waren für ihn nicht erkennbar. Einige Zeit später musste Sina als Fahrer eines Motorrollers aktiv am Straßenverkehr einer indischen Megastadt teilnehmen, um die Distanz zwischen seinem Wohnort und seinem Arbeitsplatz zu bewältigen. Erst jetzt erschlossen sich ihm allmählich die Muster der hiesigen Verkehrsordnung. Wichtig für diesen Lernprozess war, dass er sich zunächst seine Überforderung eingestand und aktiv an der Überwindung seiner Vorbehalte in Bezug auf den indischen Straßenverkehr arbeitete. Er übte sich im Loslassen von seinen bisherigen Überzeugungen beziehungsweise in einem verlernen von bereits angeeignetem Wissen. Darüber hinaus erforderte der Lernprozess auch eine offene, sich im Vertrauen auf das Neue übende Haltung. Der Zugang zu diesem Lernprozess ging in erster Linie über die Intuition. Vieles geschah im Ausprobieren, im Fehler machen und im Mut aufbringen, mit vertrauten Mustern zu brechen. Während die Teilnahme am Straßenverkehr in Sina anfangs ein starkes Unbehagen auslöste, entpuppte sie sich im Laufe der Zeit als etwas, an dem er eine große Faszination und Freude entwickelte.
Was können wir aus dieser Anekdote für die Beantwortung der Frage „Was ist eigentlich Frieden“ mitnehmen?
Viele Menschen im globalen Norden sind Rahmenbedingungen gewohnt, die von Kontrolle und Reglementierung geprägt sind. Pläne, Regeln oder Rezepte, die vorgeben, was wann wie zu geschehen hat, sind vielen von uns vertraut. Wir halten uns an Stundenpläne, an Wochenpläne, an sogenannte Deadlines, an vorgegebene Arbeits- und Erholungszeiten oder an Renteneinstiegsalter. Das Maß an Ordnung und Regelung ist in Gesellschaften des globalen Nordens weit verbreitet. Alles scheint „unter Kontrolle“ zu sein.
Doch Lebendigkeit ist komplex. Und Komplexität äußert sich oftmals durch eine Nicht-Vorhersagbarkeit, durch Nicht-Linearität, durch Spannungen und Zwickmühlen. Lebendige Prozesse sind meist emergent, ergebnisoffen und sie fordern von ihren Teilnehmenden eine Bereitschaft, „loszulassen“ – beispielsweise von der Vorstellung eines Idealzustands – beziehungsweise Kontrollverlust und Nicht-Wissen zuzulassen.
Kann es sein, dass wir durch unsere Gewöhnung an stark geregelte Rahmenbedingungen, unsere Toleranz gegenüber lebendigen Prozessen eingebüßt haben? Und kann es sein, dass wir Lebendigkeit – wenn wir sie erleben – als negativ belegtes Chaos missverstehen?
Kann Permakultur, zur Friedensbildung beitragen?
Tiokasin Ghosthorse, einindigener Aktivist aus den USA, der sich an der Standing-Rock-Bewegung beteiligt, wiederholte in einem seiner Vorträge auf dem Sulzbrunner Symposium mehrfach, dass es seiner Ansicht nach im Sacred Activism nicht um Peace on Earth (Frieden auf der Erde), sondern in erster Linie um Peace with Earth (Frieden mit der Erde) gehe. Wenn es uns als Individuen und als Gesellschaften nicht gelinge, Frieden mit der Erde zu schließen, bräuchten wir uns nicht weiter damit ablenken, Frieden auf der Erde erreichen zu wollen.
Als Permakultur-Designer*innen haben wir den Anspruch, lebendige, selbstorganisierende Systeme zu gestalten. In der Theorie wissen wir, dass wir nicht alle Variablen in einem System kontrollieren können.
„Wir wissen, dass wir lediglich Rahmenbedingungen schaffen müssen, damit der regenerative Prozess von Lebendigkeit sich entfalten kann.“
Wir wissen, dass ein adäquater Umgang mit Lebendigkeit ein langwieriger und beständiger Lernprozess ist, der nicht von heute auf morgen bewältigt sein wird. Wir versuchen, mit einer entsprechend vorsichtigen Haltung, behutsame Veränderungen vorzunehmen, die die Anpassungsfähigkeit der Beteiligten im System nicht übersteigt.
Möglicherweise tun wir gut daran, wenn wir uns von der Vorstellung von Frieden als einem statischen Zustand optimaler Harmonie emanzipieren und stattdessen den Fokus darauf legen, unsere individuellen und kollektiven Toleranzschwellen gegenüber Nicht-Wissen, Kontrollverlust und der Unaufgeräumtheit des Lebens bewusst und beständig auszubauen. Möglicherweise können wir auf diese Weise mit unserer Arbeit als Permakulturgestaltende einen effektive(re)n Beitrag dazu leisten, Frieden mit der Erden zu schließen?