von Sabrina Furrer
Permakultur bietet uns einen Bezugsrahmen, der uns dazu befähigen kann, das Wohlbefinden vieler zu stärken und Lösungswege zu erkunden, die über konventionelle Vorstellungen von Richtig und Falsch hinausgehen. Doch sie hat sich nicht gesellschaftlich isoliert entwickelt, sondern vielmehr in den Zeitaltern von Kapitalismus, Post-Industrialisierung, Globalisierung, digitaler Revolution, welche alle noch deutliche Spuren des Imperialismus in sich tragen. Wir sehen diese Spuren überall. Sie manifestieren sich in Kriegen und Migration, in der Unterbezahlung im Fürsorge-Sektor oder in der unaufhörlichen Aushöhlung von Landschaften für den Abbau seltener Erden. Die Auswirkungen dieser teils nur schwer sichtbaren Strukturen – die sich zum Beispiel in undemokratischer Politik, zunehmender Kapitalkonzentration oder unüberwindbaren Zugangshürden (zum Beispiel zu politischer Mitsprache, Gesundheitsversorgung, Bildung, gesunden Lebensmitteln, Kultur) zeigen – sind für uns Menschen und andere Lebewesen sehr unterschiedlich. Doch Permakultur hat das Potenzial, die Sichtbarkeit dieser Strukturen zu erhöhen und gemeinsam in Solidarität am imperialistischen Erbe unserer Kultur zu rütteln.
Persönliche Verbindung
Vor etwa zehn Jahren habe ich einen Permakultur-Designkurs im tropischen Regenwald Costa Ricas erlebt. Das hat mein Leben für immer verändert. Ich war mit etwa zwanzig anderen Menschen aus dem globalen Norden in einem der faszinierendsten und für mich schönsten Ökosysteme. Ich habe insgesamt circa ein halbes Jahr in Costa Rica und an diesem Ort verbracht und begann zunehmend, die Blindheit des globalen Nordens für die Anliegen der Menschen vor Ort zu bemerken. Die Arbeit meiner Lehrerinnen und aller Menschen, die diesen Ort mitgetragen haben, schätze ich nach wie vor sehr. Doch mit der Zeit sah ich, wie die Kultur und die lokalen Ressourcen auch unter dem Verkauf des Paradieses und dem Transformations-Hunger von Amerikanerinnen und Westeuropäerinnen litten. So haben beispielsweise während eines Festivals etliche Menschen im Trinkwasser des Dorfes gebadet und geduscht – das Dorf hatte einige Tage kaum ausreichende Wasserversorgung.
Solche Erlebnisse haben mich ein Stück weit wacher für Fragen der sozialen Gerechtigkeit gemacht. Wieder Zuhause angekommen, erlebte ich eine Mischung aus immenser Dankbarkeit, Scham für die eigenen blinden Flecken und Ohnmacht angesichts der schwer erkennbaren und scheinbar unüberwindbaren Strukturen des Kapitalismus und Imperialismus.
In der Tiefenökologie – wie Joanna Macy sie über die letzten 30 Jahre entwickelt hat – lerne ich zunehmend, wie wichtig und wert voll diese teils schwierigen Gefühle sind. Unangenehme Gefühle ermöglichen es uns, Feedback-Schleifen zu formen, die während Jahrhunderten unterbrochen waren oder auf globaler Ebene noch gar nie existiert haben. Wenn es meinem Nachbar nicht gut geht, bekomme ich das mit, weil ich ihm ab und zu begegne. Wenn es Menschen am anderen Ende der Erde oder auch nur schon in einer anderen gesellschaftlichen Blase nicht gut geht, oder wenn sie gar in ihrer Existenz bedroht sind, bleibt das für mich allenfalls eine abstrakte Information aus der Zeitung oder in den sozialen Medien.
Soziale Gerechtigkeit und Dekolonialisierung sind für die Permakultur relevant. Denn gute Absichten allein hindern uns nicht automatisch daran, kapitalistische, diskriminierende und ausbeuterische Modelle auf aktive oder passive Weise zu reproduzieren. Wie können wir daran arbeiten, diese Modelle durch bessere zu ersetzen? Wie können wir den Kompostierungsprozess dieser lebensfeindlichen Modelle beschleunigen?
Verantwortung übernehmen
Dekolonialisierung bezieht sich auf den Prozess der Befreiung von kolonialer Herrschaft und der Wiederherstellung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Autonomie ehemals kolonisierter Länder und Menschen. Das Abwenden von kolonialistischen Strukturen und Denkweisen wird im Innen und im Aussen initiiert, gefordert und durchlaufen. Beispielsweise die Wiederanpassung des Ernährungssystems in einer spezifischen Region und die Wiederbelebung indigener und regionaler Nahrungskultur. Oder die Einforderung und das Zugestehen von politischer Mitsprache, aber auch das Überdenken eigener Vorurteile und Reflexe. Auch denke ich an die grosse Sehnsucht von westeuropäischen Menschen nach dem Wiederaufbau ihrer Beziehung zur belebten Mitwelt.
Einfach oder eindeutig sind diese Prozesse nicht. Wir sind unterschiedlich betroffen von diesen Ungerechtigkeiten, teilweise Profiteurinnen davon. People care als ethisches Prinzip der Permakultur bedeutet Solidarität und Verantwortungsübernahme. Daher müssen wir in der Permakultur die existierenden Ungerechtigkeiten angehen, indem wir die historische Landschaft von Diskriminierung lesen lernen. Dabei helfen kann uns eine authentische Kontaktaufnahme mit dem Gegenüber und die Bemühung, Projektionen in den Hintergrund rücken lassen.
Das Prinzip Null
»Beobachten und interagieren«. Dieses erste Prinzip von David Holmgren wurde sinnvollerweise vor einigen Jahren durch Sarah Queblatin um ein Prinzip Null ergänzt, welches allen anderen Prinzipien vorangeht: »Ehre traditionelle ökologische oder indigene Weisheit, die vor Ort schon besteht. Anerkenne ihre Hüter:innen und beziehe sie mit ein – sichtbare und unsichtbare, aktuelle und vergangene.« Sarah Queblatin bezieht sich dabei auf kulturelle Rhythmen, Rituale und Geister oder Götter und Geschichten, die sehr viele Informationen über das gesamte Ökosystem beherbergen. Erst im 20. Jahrhundert begann man im Westen zu begreifen, dass das Konzept von Natur und dessen Bedeutung nur in westlichen Kulturen existiert, denn in vielen Kulturen gibt es diese Dualität von Mensch und Natur gar nicht. Dekolonialisierung geschieht also auch über Veränderung der Sprache sowie das Hinterfragen von Denkmodellen und Wertesystemen. Das Prinzip Null ist besonders wichtig, wenn wir Orte besuchen oder gar ausserhalb unseres eigenen kulturellen Kontextes permakulturell gestalten. Es bedeutet aber auch, dass wir Zuhause unsere eigenen lokalen Weisheiten konsultieren und wertschätzen können, anstatt die Lösung in weiter Ferne zu suchen.
Kulturelle Aneignung
Ich erlebe, dass Menschen in Westeuropa ihre Dankbarkeit gegenüber indigenen Kulturen zum Ausdruck bringen, den Gemeinschaften, welche den Widrigkeiten zum Trotz sowohl spirituelle als auch technische Kulturgüter und -praktiken am Leben erhalten haben. Sie schenken uns Inspiration und Orientierung in einer Welt, die oft werteleer und vom Konsumgeist vereinnahmt scheint. Wir feiern die Resilienz dieser Gemeinschaften, ihre Güter und Praktiken und integrieren sie in unsere Praxis. Doch reicht das aus? Ist das nicht eine Form von kultureller Aneignung?
Robin Wall Kimmerer, Professorin für Umweltbiologie und Angehörige der Potawatomi-Nation, erklärt, dass das Leben auf Gegenseitigkeit beruht. Geben und Nehmen im Wechsel. Geben wir mit der Dankbarkeit ausreichend zurück? Kommt das Feiern ohne Gegengabe einer weiteren Ausbeutung gleich? Wir können Kulturvielfalt zelebrieren und Praktiken teilen und müssen uns aber dann gleichzeitig bemühen, die Kontexte kennenzulernen, aus denen diese Praktiken stammen. Nur so verstehen wir, was wir zurückgeben können. Erst dann geschieht kulturelle Befruchtung auf wahrer Augenhöhe, dann wird Dankbarkeit zu etwas Subver sivem und kommt nicht mehr nur aus den Abgründen unserer Schuld und Scham. Aus der aufrichtigen Dankbarkeit entstehen hoffentlich Fülle, Stärke, Mut und Beziehung.
Gestalten im Grossen und im Kleinen
Wenn wir Permakultur als ein Ergebnis der vielfältig gelebten Beziehungen in einem Netzwerk von Leben sehen, sowie als allgemeiner Gestaltungsansatz basierend auf der Ethik von Gerechtigkeit und Fürsorge, dann ergeben sich daraus verschiedene Möglichkeiten, um soziale Gerechtigkeit zu stärken.
Unsere Fähigkeit in Beziehung zu treten, hilft uns dabei, die Bedürfnisse von Menschen zu erkennen und gemeinsam kreativ mit neuen Modellen zu experimentieren. Diese Modelle enthalten das Potenzial, ausgediente Muster überflüssig zu machen. Wir können unsere Erfahrungen mit anderen teilen, zum Beispiel mit dem Ansatz von Commons: Ressourcen und Wissen werden zum Wohle aller gemeinschaftlich genutzt und gepflegt. Die Transition-Bewegung und die Permakultur haben bereits bedeutende Fortschritte in diese Richtung erzielt. Um sicherzustellen, dass wir nicht nur mit einem schönen Plan für den Hausgarten aus dem Permakultur-Design-Kurs nach Hause gehen, ist es entscheidend, sich mit globalen Themen auseinanderzusetzen und den Mut aufzubringen, sich aktiv in die lokale und erweiterte Gemeinschaft mit der eigenen Stimme einzubringen.
Ein weiteres wichtiges Element ist die Gestaltung von Bildungsangeboten, die auf einem Verständnis des Lernens aufbauen, welches durch »Lernen als Verlernen« geprägt ist und Lernen als fortlaufenden Prozess auf Augenhöhe betrachtet, anstatt hierarchische Wissensvermittlung zu praktizieren. Unsere Privilegien können wir in den Dienst derer stellen, die wenig Gehör finden. Wir können ihre Stimmen verstärken und ihnen Raum geben für ihre Anliegen – ohne zu erwarten, dass diese Menschen allein die gesamte Aufklärungsarbeit leisten. Wir können bei der Gestaltung von materiellen und virtuellen Räumen so vorgehen, dass möglichst viele verschiedene Menschen Zugang haben. Wir können in Dialog treten, im Wissen darum, dass wir blinde Flecken haben und Fehler machen können. Gleichzeitig können wir darauf vertrauen, dass andere uns aufmerksam dabei unterstützen, unsere Perspektiven zu erweitern.
Im deutschen Sprachraum tut sich was
- Sandra Passaro begleitet am Permakultur Institut das Jahrestraining für angehende Permakulturdesigner:innen und hat den im Jahr 2023 veröffentlichten Sammelband Praxisbuch Transformation dekolonisieren den Text »Permakultur dekolonialisieren« geschrieben.
- An der Zürcher Hochschule der Künste findet unter der Leitung von Sophie Vögele ein Experiment zur Aneignung des öffentlichen Raums statt. Studierende entwickeln dabei gemeinsam mit Expertinnen der Permakultur und der Antidiskriminierung einen Tiny Food Forest und führen dabei eine Auseinandersetzung darüber, wie kulturelle Teilhabe mit Ungleichheit und Diskriminierungskritik zusammenhängt, und was das mit unserem Verständnis von Nachhaltigkeit zu tun hat.
- Der Waldgarten-Stammtisch hat sich 2023 mit ökofaschistischen Tendenzen in der Permakultur beschäftigt.
- Die Fachgruppe »Diskriminierung und Ethik« des Vereins Permakultur Schweiz hat 2023-2024 eine Buchgruppe organisiert, in der «dazugehören” von bell hooks gelesen und diskutiert wurde.
Buchtipps:
bell hooks (2022): dazugehören. Über eine Kultur der Verortung.
Robin Wall Kimmerer (2021): Geflochtenes Süssgras.
Robin Wall Kimmerer (2021): Die Grammatik der Lebendigkeit.
Sandra Passaro (2023): Permakultur dekolonialisieren. Praxisbuch Transformation dekolonialisieren.
Layla F. Saad (2018): Me and my white supremacy workbook.
Descola, Philippe (2013): Beyond Nature and Culture.
Ostrom, Elinor (2011): Was mehr wird, wenn wir teilen.
