Frei, fair und lebendig – die Macht der Commons

Beim Commoning steht nicht der Besitz einer Sache im Mittelpunkt des Interesses, sondern seine Nutzung zum Wohle aller. Ein Kommentar von Christian Schorsch zum 2019 erschienenen Buch von Silke Helfrich und David Bollier.


von Christian Schorsch

Was sind Commons?

Stellt euch vor, ihr sitzt in einem größeren Treffen und stellt fest, dass es einiges Wichtiges zu notieren gäbe. Jedoch nur eine einzige Teilnehmerin hat daran gedacht, einen Stift mitzubringen. Nehmen wir an, diese Teilnehmerin braucht ihren Stift auch gar nicht selbst und bekommt nun diverse Anfrage von anderen, die den Stift gern nutzen möchten. Falls sie partout nicht mag, ist jedwedes Verhandeln bereits an dieser Stelle unterbunden. Der Stift ist schließlich ihr Eigentum. Es steht ihr sogar frei, den Stift im Angesicht aller zu zerbrechen.

Im wohlgesonnenen anderen Fall ist zwar so ein Stift kein sonderlich wertvolles Objekt, aber stellen wir uns vor, die Stiftbesitzerin möchte sich dennoch absichern, keinen Schaden oder Verlust davon zu tragen – oder sie möchte sogar einen Gewinn aus dieser Situation ziehen. Damit hätte sie die Möglichkeit, den Stift an einen Interessenten zu verkaufen, der ihn dann vielleicht wiederum weiterverkauft und so fort. Oder sie kommt auf die Idee, ihn meistbietend zu versteigern. Oder auf den Gedanken, eine Leihgebühr für ein befristetes Nutzungsrecht zu erheben. In all diesen Fällen passiert eines: der Stift wird zur Ware und die Teilnehmenden beginnen, in Konkurrenz und Handelsbeziehungen miteinander zu treten, wobei in der Regel nicht alle gleichermaßen gewinnen.

Was nun aber, wenn der Stift nicht mitgebracht wurde, sondern bereits im Raum lag, als alle hereinkamen? Er quasi niemandem explizit gehört und somit für alle gleichberechtigt da zu sein scheint? Dann würde sich vermutlich zuerst eine Teilgruppe herausbilden, die den Stift überhaupt nutzen möchte – eine Community. Anschließend wird man sich kurz zusammensetzen und eine gemeinsame Rotationsregel vereinbaren, die für alle stimmig ist und jedem die Mitnutzung ermöglicht. Das Risiko des Verlusts (oder auch der Vernutzung des Stiftes) liegt nun bei allen gleichermaßen.

In diesem kleinen, konstruierten Beispiel wurde soeben ein Commons, ein Gemeingut erschaffen! Das ist jedoch nicht der Stift allein, sondern umfasst genauso das soziale Gefüge, das um ihn herum entsteht, also die Community, die Gemeinschaft, samt ihren selbstgesetzten Regeln. Anstatt (Preis-)Handel zu treiben, wenden die Teilnehmer hier Commoning oder Gemeinschaffen an.

Alles ist ein Netzwerk

Um Commons wirklich fassen und wahrzunehmen zu können und selbst in der Lage zu sein, Commoning bewusst und unbefangen zu betreiben, bedarf es womöglich eines neuen Verständnisses vom In-der-Welt-Sein. Die Autoren Silke Helfrich und David Bollier nutzen in ihrem Buch „Frei, fair und lebendig – die Macht der Commons“ dafür die Metapher eines Wechsels des Fensters, durch das wir die Welt betrachten. So hat eben nicht nur Einfluss darauf, was wir für selbstverständlich, normal und unausweichlich halten, ob wir beispielsweise an einen allmächtigen Gott glauben, sondern eben auch, ob wir uns selbst (und unsere Mitwelt) als voneinander losgelöste und unabhängige Subjekte (und Objekte) wahrnehmen oder anerkennen, dass alles über systemisch wechselwirkende Beziehungen miteinander verbunden ist. Dass alles vergleichbar mit einem Organismus ist, in dem zwar jedes spezifische Element eine besondere, individuelle Rolle einnehmen kann, aber dennoch allein und isoliert nicht lebensfähig wäre, sondern nur in einer unentrinnbaren Abhängigkeit von den „Zuarbeiten“ aller anderen existiert. Heute ist es eine von vielen Auswirkungen des Geldes, dass wir dem Eindruck erliegen, wir wären völlig ungebunden und frei vom Wohlwollen und der Unterstützung durch andere Menschen – ein jeder seines Glückes Schmied. Diese Illusion entsteht deshalb, weil Geld in der Lage ist, direkte Beziehungen zueinander zu unterbrechen und quasi auszublenden. So übersieht man leicht, dass es die Arbeit des Krämers ist, die einem ermöglicht, Dinge an nur einem einzigen Ort zu beziehen, nicht jedem Erzeuger einzeln einen Besuch abstatten zu müssen und einem erst dadurch dankenswerte Zeit für die eigenen Interessen verschafft wird. Durch die inzwischen globalen Verkettungen solcher Warenflüsse werden jedoch noch viel weitreichendere Beziehungen vernebelt, wie beispielsweise die zu einer Näherin in Bangladesch, die das gerade neu erworbene T-Shirt unter vielleicht fragwürdigen Arbeitsbedingungen hergestellt hat.

Muster für das Commoning

Der Hauptteil des Buches von Helfrich und Bollier ist Mustern gewidmet, die zu gelingendem Gemeinschaffen beitragen können und in ihrer grundlegenden Art und Weise Theorien des Architekten und Philosophen Christopher Alexander aufgreifen. Mit Mustern können wir eigene praktische Projekte im Spektrum des sozio-ökonomischen Wandels auf ihre Transformationskraft oder konzeptionelle Schwachstellen hin überprüfen und derlei Projekte schrittweise und zielgerichtet um die Anwendung einzelner Muster erweitern und stärken. Muster sind dabei keine Blaupausen, die 1:1 übernommen werden, sondern formulieren Essenzielles und Verallgemeinerungen, die dann wieder situiert und an den jeweiligen Kontext angepasst werden. Dies entspricht gängiger Permakulturpraxis, die ebenfalls keine vorgefertigten Lösungen anbietet, sondern einen Werkzeugkoffer bereitstellt, der zur Bearbeitung der jeweils vorgefundenen Situationen genutzt wird.

Solche Muster lauten nun im Sektor des „Sozialen Miteinanders“ zum Beispiel:

  • „Rituale des Miteinanders etablieren“
  • „Ohne Zwänge beitragen“
  • „Konflikte beziehungswahrend bearbeiten“

Ein weiteres Feld eröffnet der Bereich „Selbstorganisation durch Gleichrangige“ mit Mustern wie:

  • „Sich in Vielfalt gemeinsam ausrichten“
  • „Gemeinstimmig entscheiden“
  • „Commons und Kommerz auseinanderhalten“.

Mindestens genauso wichtig erscheinen mir die Muster von „Sorgendes & Selbstbestimmtes Wirtschaften“, die unter anderem lauten:

  • „(Für-)Sorge leisten & Arbeit dem Markt entziehen“
  • „Poolen, deckeln und aufteilen“
  • „Auf verteilte Strukturen setzen“.

Da Commoning sehr vielschichtig und alles andere als eindimensional ist, erscheint die Mustertheorie und -sprache als äußerst nützlicher Ansatz, um gewohnte Alltagspraktiken nicht schlagartig verändern zu müssen, sondern Stück für Stück und im Rahmen der gerade gegebenen Möglichkeiten zu transformieren. Bevor Gemeinschaffen irgendwann zur Routine werden kann, sind viele Facetten der einfließenden Rahmenbedingungen bewusst zu berücksichtigen, die das Gelingen eines anderen Miteinanders erschweren oder gar scheitern lassen können. Doch je mehr stabile Commoning-Projekte entstehen und je mehr günstige Erfahrungen Menschen damit machen, umso einfacher wird es für andere, sich anzuschließen und dieser anderen Form des Wirtschaftens jenseits von Markt, Staat, Konkurrenz, Wettbewerb, Wachstumszwang und streng hierarchischer Ordnung schrittweise beizutreten.

Commoning und Politik

Was dem aufmerksamen Leser im Verlauf des Buches ebenfalls klar werden könnte, ist, dass Commoning der Keim für eine neue Form und Art und Weise von Politik ist. Vielleicht wird es schon in Grundzügen klar, wenn man über das Stiftbeispiel nachdenkt und sich in diese Situation vertieft.

Im Falle von Handelsbeziehungen ist naheliegend, dass ein jeder vordergründig an sich selbst und den eigenen Vorteil denkt, somit alle anderen zu Konkurrenten werden. Auch ein Gemeinwohl müsste erst erkämpft werden, indem im obigen Beispiel der Eigentümerin möglicherweise zunächst generelle Mitnutzungsrechte abgetrotzt werden oder aber auch nur für „faire Preise“ gestritten werden muss, die niemand aus der Gruppe praktisch gänzlich ausschließen. Doch, was ist dabei dann auch wirklich fair? Zum einen aus Sicht der Eigentümerin, zum anderen aus Sicht der Menschen, die gerade einen Stift brauchen? Lager mit unterschiedlichen Perspektiven, Meinungen oder gar feindlichen Interessen entstehen.

Beim Commoning gibt es diese grundlegende Polung nicht, da alle Mitglieder der Gemeinschaft gleichberechtigte Nutzungsanrechte besitzen, sich deshalb auf Augenhöhe begegnen und die Risiken gemeinsam tragen. Interessenkonflikte bestehen dennoch und müssen auch beziehungswahrend ausgetragen werden. Jedoch ist dabei niemand von vornherein auf Grund rechtlicher Privilegien mit mehr Macht ausgestattet. Nicht der Besitz einer Sache steht im Mittelpunkt der Interessen, sondern seine Nutzung zum Wohle aller.

„Frei, fair und lebendig – Die Macht der Commons“ richtet sich an alle Praktiker im bunten Spektrum des sozial-ökologischen Wandels und solidarischen Wirtschaftens. Vieles wird hier am konkreten Beispiel erklärt und vermittelt. Das erleichtert all jenen den Zugang zu Ideen und Potenzialen rund um Gemeingut, die sich eher in reale Projekte hineindenken wollen, um daraus dann vielleicht selbst ihre Schlussfolgerungen und eigene Erkenntnisse zu ziehen. So formulieren die Autoren gleich zu Anfang des Buches ihre Absicht, jeden Leser den Commoner in sich selbst entdecken lassen zu wollen. Also jenes menschliche Potenzial, das Kooperation und Lebendigkeit fokussiert und entfaltet, um damit den Wandel vom Homo oeconomicus zum Homo vitalis zu bahnen, dem Prof. Maja Göpel, Generalsekretärin des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), die Zukunft attestiert.

 



Silke Helfrich, David Bollier; „Frei, fair und lebendig – Die Macht der Commons“ (Transcript 2019)

Unter www.transcript-verlag.de auch als freier Download (PDF) verfügbar.

 

 

Nach oben