von Steven Sieg
Eine persönliche Beobachtung
Während meiner Reise durch Australien, ein Land voller Kontraste und Wunder, wurde ich immer wieder von der Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt überrascht. Ich beobachtete häufig Kängurus, die scheinbar mühelos über die felsige Landschaft hüpften. Ihre kräftigen Hinterbeine, ihre langen Schwänze, die perfekte Balance – jedes Detail ihres Körpers war offensichtlich darauf ausgelegt, diese Umgebung zu meistern.
Im trockenen Outback faszinierte mich ein anderes Bild: Ein Dornenteufel – ein kleines Reptil, dessen Haut mit feinen Kanälen durchzogen ist, um das wenige Wasser aus Tau oder Regen direkt in seinen Mund zu leiten. Genau wie das Känguru, ist auch der Körper des Dornenteufels an die harschen Bedingungen seiner Umwelt angepasst.
Die Natur hat in der Evolutionsgeschichte eine unglaubliche Vielfalt an Formen hervorgebracht. Jede dieser Formen ist eine elegante und zugleich effiziente Anpassung an die Umgebung. Ich begann mich zu fragen: Wie gelingt es der Natur, immer wieder solch geniale Lösungen zu entwickeln? Könnte dahinter eine grundlegende Weisheit stecken, nach der sie sich richtet? Schließlich versuchen wir auch in der Permakultur clevere und effiziente Lösungen für unsere Designanliegen zu finden.
Die erste Begegnung mit dem Prinzip
Es war während einer Konferenz mitten im Outback von Queensland, als ich zum ersten Mal bewusst auf das Prinzip stieß. Dick Richardson sprach über seinen Ansatz der regenerativen Rinderhaltung und beschrieb, wie das Treiben einer Rinderherde idealerweise der Funktion des Weidelands folgen sollte. Jede Entscheidung – ob es um die Dichte der Herde, die Dauer des Weidegangs oder die Ruhezeit des Bodens ging – war von der Funktion des gesamten Ökosystems geleitet. In seinem Vortrag erwähnte er, dass: die Form aus der Funktion entsteht und nicht umgekehrt – ein Prinzip, das tief in der Natur verwurzelt ist. Eine Weidelandschaft behält nur dann ihre Form, wenn sie ihre Funktion erfüllen kann – ändert sich die Funktion, ändert sich auch die Form.
Erstmals wurde dieses Prinzip als „form follows function – die Form folgt der Funktion“ vom Architekten Louis Sullivan im späten 19. Jahrhundert formuliert. Er beschrieb, dass die Form eines Gebäudes direkt aus seinem Zweck hervorgehen sollte. Ein Bürogebäude sollte nicht versuchen, wie ein Tempel zu wirken, und ein Tempel sollte nicht wie ein Bürogebäude aussehen.
Während meiner Rückfahrt zu der Rinderfarm auf welcher ich arbeitete, ließ mich der Vortrag nicht los. Das erwähnte Prinzip sprudelte durch meinen Kopf, und ich begann zu begreifen, dass es einen fundamentalen Aspekt beschreibt. Wenn die Form ein Ausdruck der Funktion ist, warum sehen die Dinge in der Natur dann so aus, wie sie aussehen?
Nehmen wir ein Baum als Beispiel: Seine Funktion ist das Sammeln von Sonnenenergie für die Photosynthese. Die immer feiner verzweigten Äste und die weit ausladende Krone maximieren die Oberfläche, sodass das Sonnenlicht effizient eingefangen werden kann. Darum sehen Bäume so aus, wie sie aussehen. Ein Fisch dagegen hat einen stromlinienförmigen Körper, weil er dadurch in der Lage ist, sich mit minimalem Widerstand durch eine dichte Flüssigkeit – Wasser – zu bewegen. Genauso ist die physische Erscheinung eines Kängurus und Dornteufels, die Manifestation einer für diese Umgebung funktionierenden Form.
Dass viele dieser Formen sehr gut in der Natur funktionieren, zeigt sich daran, dass menschliche Designs oft natürliche Formen nachahmen: Boote imitieren die stromlinienförmige Form von Fischen, und Flugzeuge orientieren sich an den aerodynamischen Strukturen von Vögeln. Die Natur hat diese Formen über Jahrmillionen hinweg perfektioniert. Sie sind ein Ausdruck absoluter Effizienz. Dabei lassen sich bestimmte wiederkehrende Muster beobachten, die in der gesamten belebten und unbelebten Welt zu finden sind – wie die Fibonacci-Zahlen, der Goldene Schnitt oder geometrische Formen wie die von Bienenwaben. Diese Muster sind nicht nur ästhetisch, sondern auch funktional, weil sie die Ressourcen effizient nutzen und Stabilität gewährleisten.
In der Permakultur erschient mir dieses Prinzip plötzlich als eine fehlende, aber zugleich naheliegende Ergänzung zu den gängigen Design Prinzipien. Es ist zwar in vielen Ansätzen und Lösungen implizit vorhanden, doch oft bleibt die Anwendung unbewusst. Unsere Designs sind dann am erfolgreichsten, wenn ihre Form direkt aus der Funktion der Landschaft und ihrer Lebewesen abgeleitet ist. Dabei ist „Form follows function“ nicht nur ein Ansatz aus der Architektur, sondern eine Einladung, mit der Natur zu arbeiten, statt gegen sie. Versuchen wir nämlich zuerst die Form zu definieren, ohne die zugrunde liegende Funktion wirklich zu verstehen, laufen wir Gefahr, in Fehlschläge und Ineffizienz zu geraten. Gestalten wir zum Beispiel erst die Form eines Stuhls, ohne die Funktion zu bedenken, könnte er zwar schön aussehen, aber unbequem oder instabil sein.
Praxisbeispiele in der Permakultur
Das Prinzip „Form follows function“ zeigt sich in der Permakultur auf vielfältige Weise. Betrachten wir zum Beispiel ein Schlüssellochgarten. Ein kreisförmiges Beet mit einem zentralen Zugang optimiert den Platz und macht alle Pflanzen leicht erreichbar. Seine Form ergibt sich aus der Funktion, die Wege zu minimieren und die Pflege zu erleichtern.
Die geodätische Kuppel, wie sie in Gewächshäusern oder nachhaltigen Gebäuden verwendet wird, ist eine Form, die Stabilität, Materialeffizienz und Energieeffizienz vereint. Ihre Gestalt basiert auf den gleichen mathematischen Prinzipien, die auch in der Natur zu finden sind, etwa in der Struktur von Strahlentierchen.
Auch Keyline Design ist ein Beispiel dafür, wie die Form direkt aus der Funktion hervorgeht. Es basiert auf dem Ziel, Wasser effizient zu sammeln, zu speichern und gleichmäßig in der Landschaft zu verteilen. Die Teiche in einem solchen System werden gezielt an sogenannten Keypoints in der Topografie angelegt – jene Punkte, an denen Wasser sich auf natürliche Weise sammelt und mit minimalem Aufwand maximaler Nutzen erzielt werden kann. Von diesen Schlüsselstellen aus erstreckt sich ein Netzwerk aus Swales entlang der Konturlinien, die das Wasser sanft in die Landschaft leiten, hin zu Bereichen, die sonst trockener wären. Die „Form“ dieses Designs – mit seinen geschwungenen Linien, strategisch platzierten Teichen und Dämmen – ist vollständig darauf ausgerichtet, die Funktion zu erfüllen: das vorhandene Wasser optimal zu nutzen und den Wasserhaushalt der Landschaft zu regenerieren.
Das Prinzip findet sich auch in dier Gestaltung von sozialen Strukturen wieder. Ein Beispiel dafür ist die Struktur von selbstorganisierten Gemeinschaften oder Kooperativen, bei denen die Funktion des Miteinanders – wie Zusammenarbeit, Kommunikation und Entscheidungsfindung – die Form der Organisation bestimmt. Die Struktur ergibt sich direkt aus der Funktion, den Dialog zu fördern und die Stimmen aller zu hören.
Ein weiteres Beispiel könnte eine gemeinschaftlich organisierte Bildungsplattform sein. Die Form der Lernmethoden und -räume – etwa offene, kooperative Workspaces oder informelle Lerngruppen – folgt der Funktion, den Wissensaustausch und die kollektive Intelligenz zu fördern und eine inklusive, partizipative Lernkultur zu schaffen.
Die Integration des Prinzips
Das Prinzip „Form follows function“ ist nicht nur eine Beobachtung, sondern eine Einladung zur bewussten Gestaltung. In der Permakultur geht es darum, Systeme zu entwerfen, die effizient, nachhaltig und anpassungsfähig sind. Wenn wir uns die Funktion eines Systems genau ansehen, wird die passende Form oft intuitiv klar.
Beginnen mit der Funktion: Bei der Planung eines Permakultur-Designs sollte die Frage im Vordergrund stehen: Was soll dieses System leisten? Welche grundlegenden Funktionen gilt es zu erfüllen? Zum Beispiel: Soll ein Gemüsegarten Nahrung liefern, Boden verbessern und gleichzeitig die Biodiversität fördern? Diese Funktionen definieren dann die Anforderungen an die Form – wie die Platzierung von Gemüsebeeten, die Integration von Kompostbereichen und die Auswahl von Pflanzen, die Synergien erzeugen.
Anpassen an den Kontext: Die Funktion entspringt den lokalen Gegebenheiten und macht nur dann Sinn, wenn sie zur Umgebung passt. Ein Hügelbeet im feuchten Mitteleuropa ist eine ideale Lösung, um die Drainage zu verbessern, während in ariden Regionen versenkte Beete helfen, Wasser zu sammeln. Hier bestimmt die auf den Kontext angepasste Funktion – Wasser ableiten vs Wasser sammeln – die optimale Form.
Flexibilität: Die Natur steht nicht still. Sich verändernde Bedingungen üben Anpassungsdruck aus. Demnach ist auch ein gutes Design niemals statisch. Es muss mit der Zeit wachsen und sich verändern können. Permakultur-Designs sollten so angelegt sein, dass sie auf Veränderungen in den Umweltbedingungen reagieren können, ohne dabei ihre Kernfunktionen zu verlieren.
Einladung zur Reflexion: Jede von der Natur hervorgebrachte Form ist eine elegante und zugleich effiziente Manifestation ihrer Funktion. Der bewusste Einsatz von „Form follows function“ ist ein Werkzeug, um Fehler zu vermeiden und kreative, nachhaltige Lösungen zu finden, die langfristig Erfolg haben. Statt sich auf vorgefertigte Designs zu verlassen, lädt das Prinzip dazu ein, die Natur und ihre Prozesse genau zu beobachten und daraus zu lernen.
Fazit
In einer Welt, die zunehmend nach Lösungen für ein nachhaltiges Leben sucht, ist das Prinzip „form follows function“ ein wertvolles Hilfsmittel, um unser Denken über Form und Funktion zu hinterfragen. Es lädt uns dazu ein, unsere Designanliegen in erster Linie als Funktionen zu betrachten, die es zu erfüllen gilt. „Form follows function“ geht dabei Hand in Hand mit dem Prinzip „Gestalte vom Muster zum Detail“. Nutze die Muster und Formen der Natur als Inspirationsquelle, um Lösungen zu entwickeln, die sich vor allem auf funktionale Bedürfnisse stützen. Entscheidend ist dabei, dass wir nicht nur die übergeordneten Funktionen in unserem Design definieren, sondern auch erkennen, welche funktionale Rolle jedes einzelne Element im Gesamtsystem spielt.
Indem wir dieses Prinzip in unseren Gestaltungsprozessen aktiver anwenden, können wir Systeme entwickeln, die nicht nur nachhaltig, sondern vor allem effizient sind. Dadurch werden unsere zukünftigen Permakultur-Designs möglicherweise noch stärker in Einklang mit natürlichen Prozessen stehen, und die Formen werden zunehmend das widerspiegeln, was tatsächlich benötigt wird. So wird „form follows function“ mehr als nur ein Design-Prinzip – es wird zu einer Haltung. Es hilft uns, erst über die Funktion und dann über die passende Form nachzudenken. Definieren wir die Form ohne ein klares Verständnis der zugrunde liegenden Funktion, riskieren wir Ineffizienz und Fehlschläge. Die Natur zeigt es uns – form follows function.
Die Frage bleibt also: Welches Zusammenspiel zwischen Form und Funktion können wir in der Natur beobachten? Und wie können wir diese Erkenntnisse in unsere eigenen Designprozesse integrieren?