Die Revolution des Heuhalms

Die Methode des elementaren Anbaus setzt auf eine dicke Mulchschicht aus Heu


Zwischen diesen beiden Bildern liegen zehn Wochen und eine dicke Schicht Heu. (Foto © Stephanie Rauer)

Gian Carlo Cappello hat die Methode des Elementaren Anbaus entwickelt. (Foto © Mara Lilith Orlandi)

von Stephanie Rauer

“Der Schnecke ist es egal, ob sie mit chemischen oder biologischen Mitteln getötet wird. Das Ergebnis ist dasselbe. Und sie wird sich rächen”, sagt Gian Carlo Cappello in seinen Workshops. Mit der elementaren Anbaumethode setzt der italienische Agrarbetriebswirt auf das Zusammenspiel und die sich daraus ergebende Balance aller vorhandenen Elemente. Für ihn ist es undenkbar, die natürliche Vegetation herauszureissen, um Kulturpflanzen Platz zu machen oder Tiere als Schädlinge zu bekämpfen. Das sei kein biologisches Gärtnern, sondern Biozid. Von Permakultur könne man daher erst sprechen, wenn auch alle vorhandenen Wildpflanzen und Lebewesen permanent in einem System leben können.

Eine Wiese Ende Mai 2017

Hier soll für drei Jahre ein neuer Gemeinschaftsgarten entstehen. Einige Blumen blühen bereits und das Gras wird täglich höher. Jetzt wäre der ideale Zeitpunkt zum Mähen. Doch stattdessen laufen wir im Gänsemarsch über die Fläche und knicken die Pflanzen um. Nun liegen sie da, als würden sie schlafen. Darauf verteilen wir eine 20 Zentimeter dicke Schicht aus Heu. Das Bett sieht einladend aus. Schon bald liegen wir selbst darin, als wären wir ein Teil davon. Und der Garten ist bereit für die Pflanzen. Ein Nest im Heu geformt, ein kleines Loch in den Boden gegraben, Setzling hinein, festdrücken und angiessen. Fertig.

Eine Mulchschicht aus Heu ist nichts Neues. Neu ist das Zusammenspiel mit der ursprünglichen Vegetation, die nicht entfernt oder komplett unterdrückt wird. Durch das Umknicken und spätere Beschweren mit Mulch können sich die biegsamen Pflanzen nicht wieder aufrichten. Die im Gegensatz dazu eher zart besaiteten Kulturpflanzen erhalten so einen Standortvorteil. Doch nach dem Prinzip Nutze und schätze erneuerbare Ressourcen und Leistungen übernehmen hier auch die Wildpflanzen ihre jeweils ganz spezifischen Funktionen, die zur Gesundheit des Ganzen beitragen. Menschliches Eingreifen in dieses komplexe System sei da in den meisten Fällen eher hinderlich als förderlich, so die Ansicht des Italieners Gian Carlo Cappello. Seit 2006 entwickelt und lehrt er die “Nicht-Methode des elementaren Anbaus”. Sie hört sich an wie die Entdeckung des Heiligen Grals im Garten Eden: Nie wieder giessen, kein Unkraut jäten, keine Schädlingsbekämpfung. Einzig Sonne, Regen, Luft und die Erde mit ihren natürlichen Helfern übernehmen die Arbeit.

Eine stetig wachsende Gemeinschaft an begeisterten Nachahmern schwört auf den elementaren Anbau – vor allem im trockenen Süden Italiens. Ob das wirklich funktioniert und in Zeiten des Klimawandels eine die Resilienz fördernde Möglichkeit ist, Gemüse anzubauen, das erproben wir seit 2017 in einem Gemeinschaftsgarten in der Italienischen Schweiz. Auf einer Vergleichsfläche von 100 Quadratmetern wird die eine Hälfte ohne Mulch sowie synergetisch nach Emilia Hazelip mit aufgeschütteten Beeten und Pflanzengemeinschaften bewirtschaftet. Die anderen 50 Quadratmeter des Gartens nimmt das Beet nach dem elementaren Anbau ein. Der Rest des 2.500 Quadratmeter grossen Grundstückes liefert uns dafür die wichtigste Zutat: getrockneten Wiesenschnitt.

Zehn Wochen später. Es ist Mitte August.

Die Wiese hat sich in einen essbaren Dschungel verwandelt. Die Tomatenpflanzen sind zwei Meter hoch. Orangefarbene Kürbisse blitzen durchs Dickicht. Der Ertrag in Relation zum Arbeitsaufwand kann sich sehen lassen. Es ist erstaunlich zu erleben, mit wie wenig Eingriffen in die Geschehnisse der Natur ein blühender und gedeihender Garten entsteht. Ab und an bedecken wir ein paar Wildpflanzen, die ihren Weg durch das Heu gefunden haben, wieder mit Mulch. Unsere Gartenarbeit beschränkt sich ansonsten auf das Beobachten, Staunen und Ernten. Oder mit Cappellos Worten: „Wir stecken unsere Nasen nicht in die Angelegenheiten der Natur – außer um an Blumen zu riechen.“

Wie auch die Permakultur begreift er Gärtnern nicht als Kriegserklärung an den Gegner Natur, sondern als einen Tanz mit den Elementen. Dabei legt er den Fokus auf die Wertschätzung des natürlich vorhandenen Kapitals und nicht auf das, was wir als Menschen zum Funktionieren, Gestalten oder gar zur Verbesserung des Systems beitragen könnten: „Du kannst nicht die Sonne und ihre Kraft kaufen, den Regen, die Luft, das Leben unter der Erde, die Mineralien, die sich dort im Überfluss befinden, das Gras, das von selbst wächst, und all das Leben, das dich umgibt, Menschen eingeschlossen. Das sind deine Arbeitswerkzeuge”, schreibt er in seinem Buch „La Civiltà dell’Orto“ (Zivilisation des Gemüsegartens), das momentan auf Italienisch und bald auf Englisch unter dem Titel „Elementary Farming“ erhältlich sein wird. Im elementaren Garten finden sich die Grundsätze von Masanobu Fukuoka wieder: nicht Bearbeiten, nicht Düngen, keine Beikrautbeseitigung, keine Chemikalien. Doch statt der Revolution des Strohhalms strebt er die des Heuhalms an: „Das Stroh stammt aus einer Monokultur und hat nicht viel zu bieten. Im Heu steckt dagegen die ganze Kraft der Biodiversität”, so Cappello. Auf diese Weise soll ein informations- und nährstoffreiches Mikroklima entstehen, in dem die Nutzpflanzen auf natürliche Weise wachsen, ohne dass dabei der Boden verarmt.

September 2017

Hilfe! Auf allen Anbaufeldern haben wir Blattläuse an Mais und Bohnen! Wanzen auf den Tomaten! Wir entscheiden uns trotz reflexartigem Suchen nach Eindämmungsmöglichkeiten dazu, nichts zu tun. Und der Verlauf bestätigt: Schon nach wenigen Tagen sind die Läuse durch ein grösseres Aufkommen an Marienkäfern in ihre Schranken verwiesen. Bei den Tomaten sieht es leider anders aus. Die Ernte ist dennoch so reichlich, dass wir gerne etwas abgeben. Schnecken sind dagegen nie ein Thema, trotz dicker Mulchschicht zum Verstecken. Eine mögliche Erklärung: Die Schnecken haben auch so genug zu essen und interessieren sich nicht für Salat und Mangold.

Jedes Element hat seine Funktionen. So, wie der Regenwurm sich um das Zersetzen organischen Materials kümmert, so übernimmt das über der Erde die Schnecke. Deshalb ist auch sie ein unentbehrlicher Helfer im Garten. Nur schade, wenn sie auch die gerade gesetzten Salatpflanzen als zu schwächlich erachtet und aufräumen möchte. „Das Übermass eines Elements ist immer Zeichen dafür, dass beim natürlichen Zusammenspiel etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist”, so Cappello. „Wir müssen uns daher fragen, wo die Ursachen liegen, statt nur die Symptome zu bekämpfen.“ Sein Rezept: beobachten, so wenig wie möglich eingreifen, der Natur ihren Lauf lassen und darauf vertrauen, dass sich das Gleichgewicht von allein einstellen wird.

Oktober 2020

Unser Experiment neigt sich dem Ende zu. Nach drei Jahren geben wir die Fläche der Natur zurück. Bald wird die Wiese wieder so aussehen, als sei nichts geschehen. Unser Fazit: Wir haben definitiv weniger Energie für jede geerntete Kalorie investiert als auf den beiden Vergleichsflächen. Trotz heisser Sommer haben wir nie gegossen. Und dennoch viele Kilo Zucchini, Kürbisse, Mais, Bohnen, Kohl, Mangold, Zwiebeln, Knoblauch und Salat geerntet. Der Boden unter dem Mulch ist feucht und luftig. Dagegen sieht er auf der unbedeckten Fläche ausgewaschen und müde aus. Im Vergleich fehlt hier gut ein Zentimeter Humusschicht. Das synergetische Beet gab uns im ersten Jahr einen guten Ertrag, sank aber schnell in sich zusammen und musste vor allem im Sommer häufig kontrolliert und künstlich bewässert werden. Einzig negativer Punkt des elementaren Beetes: Wir kamen nicht ohne externe Energie aus. Einige Male mussten wir uns von einem Bauern Heu besorgen, da der Wiesenschnitt um die Anbaufläche herum nicht ausreichte, um die Mulchschicht konstant dick zu halten, zum Beispiel nach viel Dauerregen.

Empfehlenswert ist der elementare Anbau für eine Fläche von mindestens 30 bis 40 Quadratmetern, auf der extensiv Gemüse angebaut werden und die wenig Zeit, Wasser und Pflege beanspruchen soll. Interessant wäre zu testen, ob sich diese Methode auch für grössere landwirtschaftliche Flächen eignen würde. Erfahrungswerte in Italien und der Schweiz zeigen laut Cappello, dass Flächen bis 2.000 Quadratmetern auf diese Art bewirtschaftet werden können – wenn genug getrockneter Wiesenschnitt oder vergleichbares organisches Material vorhanden ist. In seiner Kritik gegenüber anderen Techniken, wie beispielsweise dem synergetischen Beet, ist er dagegen rigoros: unnatürlich, zu viel Arbeit und eher zerstörerisch als förderlich: „Wir sind es gewöhnt, in den Begriffen des Binoms Landwirtschaft gleich Anbaumethode zu denken, aber ich glaube, dass wir in der Permakultur über diesen alten Ansatz hinausgehen können. Kein Land kann sich irgendwo verbessern und ohne ökologische und soziale Folgen produzieren, wenn es beackert, gejätet und kahl gelassen wird. Die Anwendung der Prinzipien der Direktsaat, der Aufrechterhaltung der spontanen krautigen Vegetation und des Mulchens hängt von der jeweiligen Situation ab. Aber das gewünschte Ergebnis ist immer der Humusaufbau, um eine Ernte zu erzielen. Der elementare Anbau ist eine Nicht-Methode, die keine Regeln auferlegt, sondern einfach die Aufmerksamkeit auf die natürlichen Prozesse lenkt, die notwendig sind, um diese Bedingungen zu schaffen.“

Tatsache ist, dass der elementare Anbau unter bestimmten Bedingungen funktioniert. Tatsache ist aber auch, dass er nicht immer und nicht überall funktionieren kann. Auch wenn Cappello sie als Nicht-Methode beschreibt, ist sie dennoch eine menschengemachte Strategie. Sie kann nicht die Patentlösung für alles sein. Es kommt, wie immer in der permakulturellen Planung, auf die Bedürfnisse und die Situation vor Ort an. Erst dann kann man die Methoden auswählen, die am besten passen. Nicht immer ist ein Nichteingreifen und Abwarten die beste Strategie. Wer sich mit ausgelaugten, vertrockneten oder vergifteten Böden konfrontiert sieht, braucht andere Lösungen. Denn die Natur hat zwar alle Zeit der Welt, ein aus den Fugen geratenes Gleichgewicht wiederherzustellen, wir Menschen aber nicht.

 


Der elementare Anbau in Kürze:

  • Integriere statt abzugrenzen: keinerlei Bodenbearbeitung. Die Ursprungsvegetation wird nicht geschnitten, sondern umgeknickt. Darauf kommt eine circa 20 Zentimeter dicke Heuschicht.

  • Nutze Randzonen: Durch die Mulchschicht wird die Oberfläche des Bodens erhöht. Der Humus entwickelt sich auf natürliche Weise durch Pflanzenwurzeln und die Aktivität der Bodenlebewesen. Durch das Nichtbearbeiten verbessert sich die natürliche Bodenfruchtbarkeit von Jahr zu Jahr.

  • Setze auf kleine und langsame Lösungen: Die Zeiten für den Aufbau einer natürlichen Fruchtbarkeit des Bodens akzeptieren. Keine beschleunigenden Maßnahmen wie Kompost, Jauche oder Effektive Mikroorganismen, keinerlei Dünger, keine Beikrautvernichtung, keine künstliche Bodenverbesserung – weder mechanisch noch chemisch, noch organisch.

  • Sammle und speichere Energie: Die Mulchschicht wirkt in Verbindung mit den darunterliegenden Wildpflanzen und der Humusschicht als Wasserspeicher, sodass zum Beispiel weniger Tau und Schwitzwasser der Pflanzen verdunsten. So ist kein zusätzliches Giessen notwendig. Die Jungpflanzen werden nur zu Beginn für ein besseres Anwurzeln gegossen.

  • Reagiere kreativ auf Veränderungen und nutze sie: Stabilität ist eine Illusion. Alles verändert sich stetig, balanciert sich aber wie eine Welle auf lange Sicht. Situationen nicht nur sehen, wie sie sind, sondern wie sie sein werden. Bei Problemen wird deshalb nicht eingegriffen, sondern abgewartet, bis sich das natürliche Gleichgewicht wiedereinstellt. Wir Menschen neigen dazu, zu viel und zu schnell zu machen oder ausgetretenen Pfaden nachzugehen. Die Erfahrung des bewussten Nicht-Tuns ist ein Experiment, um zu sehen: Wie weit geht es auch ohne unser Zutun? Und ist das Ergebnis sogar auf lange Sicht besser?

  • Nutze und schätze erneuerbare Ressourcen und Leistungen: Wildpflanzen sind erwünscht und haben ihre jeweils ganz spezifischen Funktionen, die zur Gesundheit des Systems beitragen. Kulturpflanzen sollen so “wild” wie möglich wachsen. Ihr gesundes Wachstum ist eine Konsequenz des natürlichen Gleichgewichts.

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