Aufbauend oder Abbauend?

Begriffsklärung und Richtungsentscheid zwischen industrieller, ökologischer und aufbauender Landwirtschaft


Aufbauend oder Abbauend?

Humusaufbau mit Mulch ist möglich, Humusaufbau mit Mais ohne Mulch ist unmöglich

Vielfältiger Gemüseanbau

Vielfältiger Gemüseanbau auf dem Praxisort Schloss Tempelhof

gemeinschaftliche Gemüseernte per Hand

Gemeinschaftliche Gemüseernte einer aufbauenden Landwirtschaft - möglichst händisch und ohne fossile Energie.

Das Problem ist offensichtlich – aber wird nur von einer kleinen Gruppe von Menschen gesehen. Die Entwicklung der Landwirtschaft über die letzten Jahrzehnte, genauer gesagt seit Ende des Zweiten Weltkrieges, ist erstaunlich und besorgniserregend. Erstaunlich, weil wir gemeinhin glauben, mit einem immer weiter steigenden technischen und chemischen Einsatz immer mehr zu produzieren. Die großen Traktoren mit einem Gewicht von rund 20 Tonnen, die riesigen Erntemaschinen, die stolzen Anhänger – sie können immer größere Flächen immer schneller säen, bepflanzen, bespritzen, beernten und pflügen. Jedoch, und das wird einer steigenden Anzahl von Menschen immer klarer, auf Kosten der Natur, des Bodens, der Artenvielfalt, der Anmut der Landschaft; aber auch auf Kosten der Steuerzahler und der zukünftigen Bewohner dieser Erde. Einige der Folgen: Bodenerosion und massiver Verlust fruchtbarer Böden; Artensterben bei Vögeln, Insekten, Bestäubern und im Bodenleben; Gifte, die im Boden, in den Bächen, im Grundwasser und auch in unseren Lebensmitteln landen; Genmanipulation von Pflanzen mit noch nicht absehbaren Folgen; gesundheitsgefährdende Nitratbelastung des Grundwassers; Ausweitung der „Todeszonen“ in Meeren durch Nitratbelastung; Ausbeutung nicht erneuerbarer Grundwasservorräte und so weiter.

Die Natur ist in der Lage, verschiedenste Funktionen zu erfüllen, die für unser Überleben sehr wichtig sind. Dazu gehören das Filtern von Luft und Wasser, die Speicherung von Wasser und die Gesundhaltung von Böden. Die Natur lässt Heilpflanzen wachsen, sie ist Quelle von Erholung und Inspiration. In ihr finden wir eine hohe genetische Vielfalt.

Viele dieser Dienstleistungen werden durch die Praktiken der industriellen Landwirtschaft zerstört. Der Boden ist kaum erneuerbar, in etwa 100 Jahren „wächst“ er nur um einen Zentimeter. Und doch betreiben wir eine Art der Landnutzung, die zur Verarmung führt: Wir ziehen uns quasi den Boden unter den eigenen Füßen weg, mit Abbauraten, die bis zu 100 mal größer sind als die Erneuerungsrate1. Zudem töten wir mithilfe von Pestiziden nicht nur die „störenden“ Unkräuter, sondern gleichzeitig ein Großteil der Lebewesen, die den Boden „beackern“. In einer Handvoll gesunder Erde leben mehr Mikroorganismen, als es Menschen auf der Erde gibt. Die Regenwürmer, die sich in einem Hektar rar gewordenen gesunden Wiesenbodens tummeln, bringen mehr Gewicht auf die Waage als die Kühe, die oben auf der Wiese grasen2. Dass Boden ein überaus wichtiges Gut ist, ist uns leider meist nicht so klar. Aber nur ein gesunder Boden produziert auch gesunde, nährstoffreiche und gut schmeckende Pflanzen. Und nur ein guter, humoser Boden kann Wasser speichern – mit jedem Prozentpunkt mehr im Ackerboden sind das pro Hektar unglaubliche 130.000 Liter zusätzlich.

Unsere Landschaften sind in verschiedener Hinsicht verarmt.

Agrarwüsten und Mais-Monokulturen zur Biogasproduktion leisten keine „Sicherung der zukünftigen Nahrungsmittelproduktion“, ganz im Gegenteil. Wie sollen unsere Kindeskinder auf den jetzt schon fast toten Böden noch Nahrung produzieren? Auf Böden, die kaum noch Humus haben und immer dünner werden? In Landschaften, die nur noch ein Bruchteil von Tieren und Pflanzen Lebensraum bieten, wenn man sie mit jenen vor 50, 100 oder 250 Jahren vergleicht?3

Eine ökologische Agrarwende ist bitter nötig. Doch neben vielen Ökobauern, die mit Überzeugung, Energie und Ausdauer eine Veränderung zum Guten zu erreichen versuchen, gibt es auch „ökologisch“ wirtschaftende Landwirte, die weiterhin agroindustriell denken und nur „konventionell ohne Chemie“ arbeiten, weil Produkte mit dem Label „Bio“ mehr Geld einbringen. Es wird also weiter in großem Stile gepflügt, Monokulturen angebaut, mit schweren Maschinen über die Äcker gefahren, mit nicht erneuerbarem Grundwasser bewässert. Der Begriff der „ökologischen Landwirtschaft“ ist, wie jeder Oberbegriff, unklar und schwammig. Was heißt es genau, „ökologisch“ zu wirtschaften?

Die „ökologische Landwirtschaft“, wie sie zumeist bei uns betrieben wird, wird nicht ausreichen, um unseren Kindern und der 7. oder gar 150. Generation nach uns die gleichen oder bessere Bedingungen zum Überleben zu sichern. Wie kann das sein? Und welche Ausrichtung sollten wir dann wählen?

Orientierung an der Natur

Die Natur ist eine ressourcenaufbauende oder regenerative Kraft: Eine von Erdrutsch oder Steinschlag zerstörte Bodenschicht wird innerhalb weniger Jahre durch Flechten, Moose und Pflanzen wieder besiedelt, die den Boden so stark verbessern, dass bald auch die ersten Sträucher und Bäume sich ansiedeln können. Nach einigen Jahren oder wenigen Jahrzehnten kann sich langsam wieder ein Wald entwickeln. Gleiches gilt für zerstörte Mangrovenwälder oder Korallenriffe, vergiftete Gewässer, verölte Meere, fast dezimierte Pflanzen- und Tierarten: Gibt man der Natur etwas Zeit und Raum, so ist es immer wieder erstaunlich, wie schnell sie es schafft, das wieder „gut zu machen“, was der Mensch zerstört hat.

Der englische Begriff „sustainable agriculture“ (nachhaltige Landwirtschaft) klingt zunächst gut. Dennoch ist auch diese Form der Landwirtschaft oftmals ressourcenzerstörend, weil sie es nicht schafft, Boden, Wasser und Ökosysteme zu erhalten. Ressourcenaufbauend oder regenerativ, so wie die Natur fast überall wirkt – davon sind wir weit entfernt. Als ressourcenaufbauende können wir solche Praktiken beschreiben, die die Natur in ihrer beeindruckenden Regenerationsfähigkeit unterstützen. Und wenn wir nur bewahren („to sustain“), was da ist, dann bewahren wir auch verarmte und vergiftete Böden, eine dezimierte Tier- und Pflanzenwelt, reduzierte Rückhalt- und Filtermöglichkeiten für Wasser. Und das soll die Lösung sein? Haben wir nicht auch eine ethische Verantwortung der Natur und unseren Mitmenschen und Nachkommen gegenüber?

Seit ich angefangen habe, mich mit den Folgen der vor etwa 10.000 Jahren entstandenen Landwirtschaft zu beschäftigen, frage ich mich, ob eine „zukunftsfähige“ Landwirtschaft möglich ist – oder ob das nicht ein Widerspruch in sich selbst ist. Fast alle großen Zivilisationen sind durch die Bearbeitungsmethoden der Landwirtschaft zusammengebrochen. Ob wir nach Mesopotamien schauen, zu den Griechen oder den Römern, zu den Mayas und Azteken oder auch zu ackerbaulich wirtschaftenden Natives in den USA: In allen Fällen war der Verlust an Boden nach einigen Jahrhunderten so groß, dass nur noch eine dünne Ackerkrume übrig blieb. David Montgomery und Jared Diamond führen das in ihren Büchern „Dreck“ beziehungsweise „Kollaps“ sehr anschaulich aus.

Um eine wahrlich „enkeltaugliche“ Landwirtschaft zu entwickeln, müssen wir weitergehen, als es wohl selbst die meisten ökologisch wirtschaftenden Betriebe machen. Wir brauchen eine regenerative Agrikultur, die die ausgebeuteten Ressourcen auffüllt, aufbaut, regeneriert. Dieser aus der Permakultur inspirierte Ansatz scheint mir derzeit der einzige wahre Begriff zu sein für die Herkulesaufgabe, die vor uns liegt.

Aber wie kann man Ressourcen aufbauen, wenn schon die ökologische Landwirtschaft kaum wirtschaftlich arbeiten kann?

Ein Blick in die Natur mag helfen: Dort schaffen vielfältige Strukturen auch vielfältigen Lebensraum, schützen Boden und Tiere mit vielfältigen Methoden. Vielfalt scheint ein wichtiger Faktor zu sein. Auch ist der Boden in der Natur mit ganz wenigen Ausnahmen eigentlich immer bedeckt. Zerstört ein Erdrutsch, eine Lawine oder ein Brand die Vegetationsschicht, dann dauert es meist nicht lange, bis Schutz und Aufbau des Bodens schnell von kleinen und bald größeren Pflanzen wieder übernommen wird. Daraus können wir lernen: Der Boden sollte ständig bedeckt sein. Und wird können mit Pflanzen arbeiten, die über viele Jahre und Jahrzehnte nutzbar sind. Nur ein kleines Beispiel: Es gibt in Italien Kastanien, die über tausend Jahre alt sind4. 1.000 Jahre, in denen nicht gepflügt werden musste, nicht gewässert, nicht gespritzt. Sondern einfach nur im Herbst geerntet. Ist das nicht ein unglaubliches Zeugnis des wirklich „nachhaltigen“ Wirtschaftens der Natur? Wie sähe unser Boden, unsere Landschaft aus, wenn wir die Kohlenhydrate weniger aus Getreide und mehr aus Kastanien, Wal- und Haselnüssen gewinnen würden?

Was wiederum ein anderes Problem lösen könnte: Unsere Nahrung ist seit der Entwicklung der Landwirtschaft sehr einseitig geworden – zum Nachteil unserer Gesundheit. Jäger und Sammler bezogen nur 20 bis 30 Prozent ihrer Nahrung aus Kohlenhydraten, wir aber zu 70 Prozent, zumeist aus nur vier Sorten: Weizen, Reis, Mais, Kartoffel. Getreide bietet jedoch wenig Vitamine oder Mineralstoffe. So manche „Zivilisationskrankheit“ kann man darauf zurückführen.

Aufbauende Bewirtschaftungsansätze

Es gibt viele Methoden die das Bild der „aufbauenden Landwirtschaft“ mit gestalten können und die es gilt auszuprobieren und in die breitere Anwendung zu bringen um Erfahrungen zu sammeln. Dazu gehört die Pfluglose oder Minimal-Bodenbearbeitung und die Direktsaat. Eine bodenschonende Bearbeitung fördert die Entwicklung des Bodenlebens wie Bakterien und Pilze, die Festigkeit des Bodens, den Humusaufbau und die Wasserspeicherkapazität. Wird in eine bestehende, oft lebende Bodenbedeckung eingesät, bleibt der Boden vor Erosion geschützt und das Bodenleben wird ernährt. Für Bodenbedeckung sorgen auch Untersaaten und Zwischenfrüchte. Große Fruchtfolgen und Mischkulturen stärken das Bodenleben ebenso, „Schadinsekten“ werden geschwächt. Die Zufuhr von gutem Kompost und Fermenten hilft der Aktivierung des Bodenlebens - der Schlüsselstelle für gesundes Wachstum der Pflanzen. Die Landschaftsgestaltung mit Schwerpunkten in Bodenaufbau und Wassermanagement steht im Fokus des Keyline-Design. Beim Mob-Grazing werden Nutztiere relativ dicht aber nur kurz (wenige Stunden bis 1-3 Tage) auf einer kleinen Parzelle geweidet - im Abbild der Gnu-Herden Ostafrikas oder der Bisons in Nordamerika. Praktiker vor allem in den USA berichten von einer deutlichen Zunahme der Bodenfruchtbarkeit mit all seinen Vorteilen. Eine ganzheitliche Ausrichtung von Betrieben inklusive der Orientierung an selbstgesteckten ökonomischen, sozialen (persönliche und gesellschaftliche) und ökologischen Ziele bietet das Holistische Management.

Bäume pumpen außerdem aus größeren Bodentiefen Wasser und Nährstoffe herauf - was sie widerstandsfähiger gegen Trockenheit macht, das Mikroklima positiv verändert und den Boden um den Baum herum wiederum nährt, wenn der Baum diese Nährstoffe im Herbst in Form von Laubfall abgibt. Zudem können Bäume den Wind bremsen, was die Bodenerosion vermindert. Sie schützen den Boden vor Regen und halten ihn viel besser zusammen, sodass Wassererosion kaum mehr eine Rolle spielt. Die Integration von Bäumen in die Äcker nennt man Agroforstwirtschaft und ist eine Praxis, die in manchen Bereichen der Erde schon weit verbreitet ist. Sie bietet ökonomisch außerdem interessante Einkommensmöglichkeiten über Früchte, Nüsse und Holz. Und dann gibt es noch das Mulchen, Waldweiden, Pflanzenkohle, Allmenden, Waldgäten und mehrjährige Gemüsekulturen, die Entwicklung einer Stadt-Land-Beziehung und so weiter (eine Zeichnung zur aufbauenden Landwirtschaft findest du hier).

In den letzten 50 Jahren mussten 19 von 20 Bauern aufgeben. Das Prinzip „Wachse oder weiche“ ist eine völlig falsche Entwicklung, es fördert agroindustrielle Monokulturen und macht die Größten noch größer. Eine vielfältige Nutzung der Landwirtschaft und eine regenerative Agrikultur ist nur möglich, wenn mehr Menschen dort arbeiten – möglichst händisch und ohne fossile Energie. Das macht Lebensmittel zwar teurer, aber qualitativ viel besser und gesünder – was wiederum Gesundheitskosten einspart. Dies alles bedarf jedoch Unterstützung der Verbraucher und Konsumentinnen und kluge Entscheidungen der Politik. Das Modell der solidarischen Landwirtschaft zeigt an vielen verschiedenen Orten der Welt, welches Potential in dieser Art der Zusammenarbeit steckt.

Eine regenerative Agrikultur ist nur möglich, wenn mehr Menschen dort arbeiten – möglichst händisch und ohne fossile Energie.

Am Praxisort Schloss Tempelhof ist uns diese „aufbauende Landwirtschaft“ ein wichtiges Anliegen. Wie wir unsere Anbaumethoden im Kleinen und Großen ändern oder anpassen müssen, um dieses hohe Ziel zu erreichen, ist ein beständiges In-Frage-Stellen, Forschen, über-unseren-Tellerrand-hinaus-Blicken. Wir bewirtschaften gut 20 Hektar landwirtschaftlicher und gärtnerischer Fläche mit vier Gewächshäusern, 150 Hühnern, 70 Bienenvölkern und 5 Schweinen. Unser Ansatz einer solidarischen Landwirtschaft wird von den Mitgliedern der Lebensgemeinschaft getragen. Wir sind damit ein kleiner und feiner „Hoforganismus“, der ganzjährig 140 Menschen versorgt und Vollpension für 8.000 Übernachtungen stellt.

Wir möchten mit innovativen Techniken und Methoden den Tempelhof zu einem Modellbetrieb für eine aufbauende Landwirtschaft entwickeln, ausprobieren und aufzeigen, was möglich ist. Ein Forschungsprojekt ist im Frühjahr 2017 gestartet, wir bieten Workshops für Gärtner und Landwirte an und organisieren das Symposium „Aufbauende Landwirtschaft“. Das Ziel ist, eine Begegnungsfläche für geistig offene konventionelle und ökologische Landwirte, Gärtnerinnen und Permakulturisten zu entwickeln und damit in die Breite zu wirken. Wir wollen ein Forschungsbetrieb sein, welcher verschiedenen Fragestellungen nachgeht und zukunftsfähige Möglichkeiten des Landbaus aufzeigt.


1 David Montgomery „Dreck“ | Jared Diamond „Kollaps“ | farmersweekly.co.uk „Only 100 harvests left in UK farm soils, scientists warn“ | scientificamerican.com „Only 60 Years of Farming Left If Soil Degradation Continues
2 Anita Idel „Die Kuh ist kein Klimakiller“ | Michael Phillips „Mycorrhizal Planet“
3 sciencemag.org „Where have all the insects gone?“ | spiegel.de „Gibt es ein Insektensterben in Deutschland?
4 wikipedia.de „Kastanienbaum der hundert Pferde

 

Bereits erschienen im Blog von Stefan Schwarzer und im Permakultur Magazin, Ausgabe 2018 für Vereinsmitglieder. Hier kannst du Mitglied werden und dem Permakultur Institut e.V. beitreten.

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